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Statistik-Know-how Warum viele Ärzte ihre Patienten falsch beraten

Viele Mediziner sind nicht in der Lage, Statistiken richtig zu lesen. Berliner Wissenschaftler fordern deshalb eine verbesserte Ausbildung von Ärzten. Problematisch wird das fehlende Know-how bei der Beratung von Patienten. Denn falsche Auskünfte haben manchmal dramatische Folgen.
Grübelnder Arzt: Sensitivität und Spezifität eines Tests, falsch positiv oder falsch negativ? Viele Mediziner kennen den Unterschied nicht

Grübelnder Arzt: Sensitivität und Spezifität eines Tests, falsch positiv oder falsch negativ? Viele Mediziner kennen den Unterschied nicht

Foto: Corbis

Im Jahr 1987 erfuhren 22 Blutspender im US-Bundesstaat Florida, dass sie HIV-positiv sind. Sieben von ihnen brachten sich daraufhin um, weil sie nicht wussten, dass die Wahrscheinlichkeit, sich wirklich mit dem Immunschwäche-Virus angesteckt zu haben, trotzdem nur bei 50:50 lag. Diese Geschichte erzählte der damalige US-Senator Lawton Chiles den Teilnehmern einer Aids-Konferenz.

Seit Aids 1981 als Krankheit erkannt wurde, sind viel Forschung, Therapie und Aufklärung ins Land gegangen. Aber falsche Beratungen sind offenbar noch häufig an der Tagesordnung. Das macht eine Übersichtsarbeit von Forschern aus Berlin  deutlich.

Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und seine Kollegin Odette Wegwarth vom Harding-Zentrum für Risikokompetenz schickten einen jungen Mann, der sich auf HIV testen lassen wollte, in 20 öffentliche Gesundheitszentren in Deutschland und untersuchten, wie er dort von den Ärzten jeweils beraten wurde. Dabei zeigte sich, dass die meisten Aufklärer für HIV und Aids selbst nur wenig über die statistischen Zusammenhänge Bescheid wissen.

Falsch positiv oder falsch negativ?

"Obwohl der Patient klarmachte, dass er zur Gruppe mit geringem Risikoverhalten gehöre, behaupteten trotzdem 16 Berater, dass falsche Testergebnisse nie vorkämen", schreiben Wegwarth und Gigerenzer. "Drei von ihnen nahmen ihre Aussage zurück, als der Patient nachfragte, ob sie sich absolut sicher seien. Lediglich drei Berater teilten dem Patienten mit, dass es falsch positive Ergebnisse geben könne."

Die meisten HIV-Tests spüren die Immunschwächekrankheit zwar in 99,9 Prozent der Fälle richtig auf (man spricht von der Sensitivität eines Tests), und die Falsch-Positiv-Rate liegt nur bei 0,01 Prozent (ein neuer HIV-Schnelltest, der jetzt in den USA zugelassen wurde, hat eine Sensitivität von 92 Prozent). Aber selbst wenn der HIV-Test positiv ausfällt, kann die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich infiziert zu sein, lediglich bei 50:50 liegen. Der Grund: Nur ungefähr 0,01 Prozent der allgemeinen Bevölkerung haben sich das HI-Virus eingefangen, die meisten Infizierten sind Menschen aus einer der Risikogruppen im Drogenmilieu oder in der Homosexuellen-Szene.

Folgen des PSA-Tests für Männer über 50: Zur Erklärung klicken Sie bitte auf die Großansicht

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Foto: Harding-Zentrum für Risikokompetenz / "Psychological Sciences"

"Wenn sich 10.000 Menschen mit niedrigem Risikoverhalten testen lasen, wird eine tatsächlich infizierte Person aufgrund der hohen Sensitivität sehr wahrscheinlich positiv auf HIV getestet", erklären die Autoren. "Von den 9999 nicht infizierten Menschen wird aber bei einer Falsch-Positiv-Rate von 0,01 Prozent ebenfalls eine Person positiv getestet. Das ergibt zwei Personen mit einem positiven Test, von denen aber nur eine Person infiziert ist", rechnen die beiden Forscher vor. Diese Zahlen variierten von Land zu Land und von Test zu Test. Aber der statistische Zusammenhang gelte überall gleich, sagt Gigerenzer.

Wahrscheinlichkeitsaussagen sind schwierig

Auch mit anderen Diagnose-Markern können Ärzte offenbar wenig umgehen. Gigerenzer und sein Kollege Ulrich Hoffrage, Professor an der Schweizer Université de Lausanne, haben 48 Mediziner mit einer durchschnittlichen Berufserfahrung von 14 Jahren auf die Probe gestellt.

Die Aufgabe: Sie sollten den Haemoccult-Test einschätzen. Dieser spürt Blut im Stuhl auf, ein Hinweis auf Darmkrebs. Der Test spricht in etwa 50 Prozent der Fälle an (Sensitivität) und liefert bei 3 Prozent falsch positive Ergebnisse; 0,3 Prozent der Bevölkerung erkranken überhaupt an Darmkrebs.

Die Ärzte sollten einschätzen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für den Patienten ist, tatsächlich an Darmkrebs zu leiden, wenn der Test positiv war. "Die Antworten", so Gigerenzer, "variierten von 1 bis 99 Prozent." Die Mehrheit gab eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent an. Vier der 48 Ärzte zogen die Falsch-Positiv-Rate von der Sensitivität ab und gelangten zu einer Einschätzung von 47 Prozent. "Die tatsächliche Wahrscheinlichkeit beträgt jedoch nur 5 Prozent."

Zu Missverständnissen kommt es außerdem bei den Fünf-Jahresüberlebens-Raten. Hier gibt es zwei Verzerrungen: den Vorlaufzeit-Bias und den Überdiagnose-Bias. Beim Vorlaufzeit-Bias verlängert sich die Überlebenszeit nur scheinbar, weil die Früherkennung dafür sorgt, dass beispielsweise ein Prostatakrebs auffällt, noch bevor er Beschwerden macht; anders gesagt: Die Diagnose wird einfach früher gestellt.

Zudem können Früherkennungsuntersuchungen zu einem Überdiagnose-Bias führen, weil auch sehr langsam wachsende oder nicht fortschreitende Tumoren erkannt werden, die vielleicht nie Beschwerden gemacht hätten. Das alles bläht die Fünf-Jahresüberlebens-Rate künstlich auf - und gaukelt eine geringere Sterblichkeitsrate vor. "Aus diesen Gründen eignet sich die Fünf-Jahresüberlebens-Rate nicht dazu, den Effekt von Früherkennungsuntersuchungen einzuschätzen", warnen Gigerenzer und Wegwarth. Vielen Ärzten sei das aber nicht bekannt.

Die Berliner Forscher konfrontierten 65 Urologen, Gynäkologen und Internisten mit verschiedenen Szenarien. Ergebnis: Legte man den Medizinern die Fünfjahres-Überlebens-Raten vor, empfahlen zwei Drittel die Früherkennung, weil sie die Überlebenschancen deutlich verbessere. Konfrontierte man die Ärzte dagegen mit der tatsächlichen Sterblichkeit bei bestimmten Krankheiten, empfahlen weniger als 10 Prozent der Befragten die Untersuchung.

Kaum jemand wusste, was ein Überdiagnose-Bias oder ein Vorlaufzeit-Bias ist: "Nur drei Prozent konnten korrekt erklären, was der Vorlaufbias bedeutet und niemand, was hinter dem Überdiagnose-Bias steckt", sagt Wegwarth. Die beiden Autoren wollen damit keinesfalls Ärzteschelte betreiben. Die Defizite lägen vielmehr in der "jahrzehntelang vernachlässigten Ausbildung, was das Verständnis von Statistiken und Risikokommunikation betrifft".

Weder das Medizinstudium noch die ärztliche Weiterbildung leistet ihrer Meinung nach genug dafür. "Auch medizinische Fachzeitschriften und Broschüren verbreiten intransparente Statistiken, die Ärzte irreführen, da sie in ihrer Ausbildung nicht darauf vorbereitet wurden." Manchmal eben zum Schaden des Patienten.