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Work-Life-Balance In der Freizeit auf dem Kriegspfad

Eine neue Studie enthüllt: Stress im Beruf erhöht das Risiko für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung. Dagegen will der Mediziner Matthias Marquardt ein Mittel gefunden haben - die "Instinkt-Formel". Im Interview verrät er, wie gestresste Arbeitnehmer ihre Gesundheit schützen können.
Überfordert im Job? Viele leiden unter einem zu hohen Stresspegel

Überfordert im Job? Viele leiden unter einem zu hohen Stresspegel

Foto: Corbis

SPIEGEL ONLINE: Sind Sie gerade gestresst?

Marquardt: Nein.

SPIEGEL ONLINE: Sie rufen aus dem Zug an, während Sie von einem Termin zum nächsten reisen. Nach Work-Live-Balance klingt das nicht?

Marquardt: Tatsächlich habe ich unseren Interviewtermin verschoben. Das klingt stressig. Allerdings habe ich das nur gemacht, um heute morgen noch im See schwimmen zu können. Die Work-Life-Balance war also optimal. Aber natürlich ist das manchmal auch anders.

SPIEGEL ONLINE: Wie funktioniert Ihre Instinkt-Formel?

Marquardt: Analysieren Sie die 168 Stunden ihrer Woche und finden Sie heraus, ob Arbeit und Privatleben in Balance sind. Wenn Sie zu viel arbeiten, sich dabei schlecht ernähren und zu wenig schlafen, wird Ihnen ein bisschen Meditation auch nicht helfen.

SPIEGEL ONLINE: Wie leben Sie selbst mit Ihrer Formel?

Marquardt: Der Ratgeber ist nicht sklavisch zu betrachten, das würde jeder Lebensrealität widersprechen. Aber der Mensch neigt aufgrund seiner Betriebsamkeit dazu, in Extreme abzudriften. Das passiert auch mir. Dann steuere ich dagegen. Wir müssen das Problem verstehen und uns die Frage stellen: Stimmt die Balance noch? Und das mache ich.

SPIEGEL ONLINE: Was richtet Stress mit unserer Gesundheit an?

Marquardt: Die Folgen sind vielfältig. Viele Studien deuten auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen hin. Auch Magengeschwüre oder Muskelverspannungen treten auf. Das habe ich auch als Mediziner erlebt. Da kommen ansonsten kerngesunde 40-Jährige mit Herzproblemen.

Work-Life-Balance: So gelingt der Spagat

SPIEGEL ONLINE: Die Liste von Glücksformeln und Ratgebern ist lang. Warum brauchen wir ausgerechnet Ihr Buch?

Marquardt: Viele Modelle funktionieren nicht. Man muss sich aber einen Plan machen. Wer sich vornimmt, mit dem Joggen anzufangen, wird nach drei Wochen feststellen, dass er leider doch keine Zeit hatte. Wenn das Regal voll ist, kann ich erst etwas Neues reinstellen, wenn ich etwas Altes herausgenommen habe.

SPIEGEL ONLINE: Geht es am Ende nicht einfach nur um Disziplin?

Marquardt: Nein, ich glaube nicht, dass alle betriebsamen Menschen in der Freizeit faul sein sollen. Sie sind aber permanent unter Strom. Das ist wie auf dem Kriegspfad. Wer so unter Stress steht, achtet nicht mehr auf Instinkte wie gesunde Ernährung oder Bewegung. So bleiben dann nach der Arbeit noch die Pizza und der Fernseher.

SPIEGEL ONLINE: Während des Studiums haben Sie einen Burnout erlitten. Damals haben Sie gleichzeitig Ihr Staatsexamen gemacht, für den Ironman trainiert und ein Buch veröffentlicht. Muten sich die Menschen zu viel zu?

Marquardt: Ja, der Mensch will immer mehr. Das Verlangen nach Status und Prestige hat ihn schon seit der Urzeit immer angetrieben. Früher durfte man dann als Erster am Mammut nagen, heute haben Sie die teure Villa. Ich musste erst erfahren, was zu viel ist. Seitdem bin ich klüger.

SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Buch warnen Sie auch vor SPIEGEL ONLINE. Sie geißeln unser Angebot als einen Zeitkiller. Finden Sie nicht, dass es heute wichtig ist, gut informiert zu sein?

Marquardt: Informationsportale haben ein gewisses Suchtpotential. Viele lechzen nach der neuesten Schlagzeile. Es reicht, sich ein oder zweimal am Tag zu informieren. Viele sind aber Junkies und klicken alle 20 Minuten darauf.

SPIEGEL ONLINE: Sie empfehlen viel Sport: Wenn ich nach einem Zehn-Stunden-Tag und Familienleben auch noch joggen gehe, bleibt meine Partnerschaft auf der Strecke. Oder ich bekomme zu wenig Schlaf. Müssen wir uns nicht damit abfinden, dass eben nicht alles geht?

Marquardt: Ja, müssen wir. Ich würde aber weder auf meinen Schlaf, noch auf meine Familie oder meinen Sport verzichten. Probieren Sie es mal so: morgens eine Stunde laufen. Mit dem Rad zur Arbeit, dann Familie, Fisch und Rotwein. Damit werden Sie nicht Millionär, aber glücklich.

SPIEGEL ONLINE: Wer den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt, hat häufig Hunger auf Süßes. Wie lässt sich das verhindern?

Marquardt: Weniger Zucker. Denn so beginnt die Zucker-Insulin-Achterbahn. Der Zucker lässt den Insulinspiegel ansteigen, dieses senkt ihn, und Sie wollen wieder Zucker. Essen Sie Nüsse. Nach zwei Wochen kommen Sie ohne Schokoriegel aus.

SPIEGEL ONLINE: Sie raten dazu, nur noch im Bioladen einzukaufen. Wie sollen finanzschwache Haushalte das umsetzen?

Marquardt: Wir haben vor 50 Jahren über 40 Prozent unseres Nettoverdienstes für Nahrungsmittel ausgegeben. Damals gab es keine iPhones oder Flatscreens. Weil wir glauben, den ganzen Mist zu brauchen, geben wir heute nur noch etwa zwölf Prozent des Nettoverdienstes für Nahrung aus. Das Geld wäre also da. Ich zumindest habe einen 18 Jahre alten Röhrenfernseher.

SPIEGEL ONLINE: Als selbständiger Arzt für Privatpatienten können Sie es sich leisten, flexibel zu arbeiten. Dann klappt es sicher auch mit der Work-Life-Balance besser. Was aber macht der normale Angestellte?

Marquardt: Morgens laufen gehen, sich einen Fischhändler suchen, abends im See schwimmengehen statt fernsehen. Und seine Freunde einladen. Das kann jeder.

Das Interview führte Jörg Römer

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