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Durchhalter und Vermeider Wie die Persönlichkeit Rückenschmerz beeinflusst

Falscher Ehrgeiz, Stress, übertriebene Angst: Rückenschmerzen hängen eng mit der Psyche zusammen. Der Experte Michael Pfingsten erklärt, welchen Einfluss die Seele auf das Leid hat - und warum die Schmerzen immer zwei Ursachen haben.
Behandlung von Rückenschmerzen: Auch die Psyche kann einen entscheidenden Anteil zum Schmerz beitragen

Behandlung von Rückenschmerzen: Auch die Psyche kann einen entscheidenden Anteil zum Schmerz beitragen

Foto: Corbis
ZUR PERSON

Michael Pfingsten ist Professor für Psychologie und leitender Psychologe der Schmerztagesklinik und -ambulanz an der Uni Göttingen. Er ist Autor mehrerer Fachbücher zu den Themen Psyche und Rückenschmerz.

SPIEGEL ONLINE: Herr Pfingsten, bei wie viel Prozent der Rückenschmerzpatienten ist der Schmerz psychisch bedingt?

Michael Pfingsten: Rückenschmerzen sind nicht entweder physisch oder psychisch bedingt, sie sind immer beides. Das ist noch nicht im Denken aller Ärzte und Therapeuten angekommen. Patienten wehren sich zu recht, wenn sie gesagt bekommen, bei ihnen sei der Schmerz seelisch bedingt, das gehört bei jedem dazu.

SPIEGEL ONLINE: Wie kann man sich das vorstellen?

Pfingsten: Wenn ich Schmerzen erwarte, wenn ich mich sehr darauf konzentriere, dann werden sie stärker. Wenn ich mich dagegen ablenke, werden sie schwächer. Das bedeutet, dass auch die Persönlichkeit einen großen Einfluss hat.

SPIEGEL ONLINE: Welche Persönlichkeiten sind besonders gefährdet?

Pfingsten: Lebe ich ständig in Angst, dass meine Schmerzen schlimmer werden, falls ich mich belaste, schone ich mich. Der Körper wird schwächer, die Koordinationsfähigkeit nimmt ab, das Miteinander von Muskeln, Sehnen und Knochen wird schlechter. Gerade beim Rücken, wo viele Strukturen zusammenarbeiten, ist das fatal. So kann bei einem Vermeider, so nennen wir diesen Patienten-Typus, aus einer normalen Zerrung eine schwere Schmerzsymptomatik werden. Umgekehrt ist es bei den sogenannten Durchhaltern.

SPIEGEL ONLINE: Was zeichnet diese aus?

Pfingsten: Sie finden nicht die richtige Dosierung für körperliche Belastung. Mit 35 haben sie zehn Klaviere am Tag geschleppt, zehn Jahre später sehen sie nicht ein, dass das jetzt nicht mehr funktionieren soll. Ihnen zeigt erst der Schmerz, wenn es zu viel war. In einer Verhaltenstherapie können diese Menschen lernen, besser auf ihren Körper zu achten. Auch den Vermeidern kann eine Psychotherapie helfen, raus aus dem Krankheitsverhalten und zurück ins Leben zu kommen.

SPIEGEL ONLINE: Kann Stress zu Rückenschmerzen führen?

Pfingsten: Stress führt zu körperlicher Erregung und deshalb unter anderem zu erhöhter Muskelspannung. Wenn Stress länger anhält, und damit auch die Muskelspannung, kann daraus Schmerz entstehen. Zum Beispiel, wenn man unter Termindruck angespannt in der gleichen Körperposition acht Stunden am Tag am Schreibtisch ausharrt. Das führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Nacken- oder Rückenschmerzen.

SPIEGEL ONLINE: Es trifft bevorzugt Leute, die besonders fleißig und gewissenhaft sind?

Pfingsten: Menschen, die alles perfekt machen wollen. Dieses Ziel führt zu ständiger Überbeanspruchung von Strukturen wie Bändern und Sehnen. Die Psyche löst körperliche Prozesse aus. Aus dem Verhalten entsteht so Schmerz.

SPIEGEL ONLINE: Was kann man dagegen tun?

Pfingsten: Da helfen weder Wirbelsäulenoperation noch Massage - man muss selbst etwas tun. Das ist schwieriger für den Patienten, als sich in die passive Rolle zu begeben. Aber in so einem Fall hilft nur, zu schauen, wo liegen die Gründe? Müssen es immer 150 Prozent sein? Warum kann ich mich nie zurücknehmen? Daran kann man arbeiten. Und auch am Alltagsverhalten: Was spricht dagegen, vom Schreibtisch aufzustehen und zwischendrin eine Dehnübung zu machen?

SPIEGEL ONLINE: Wie wirkt sich Kummer auf Rückenschmerzen aus?

Pfingsten: Kummer, Trauer und Depressionen verstärken Rücken-schmerzen. Das liegt unter anderem daran, dass Schmerz immer eine emotionale Seite hat. Wenn man zusätzlich an etwas anderem leidet, ist auch der Leidensaspekt des Schmerzes erhöht. Deswegen ist Schmerztherapie häufig auch antidepressive Therapie.

SPIEGEL ONLINE: Wie funktioniert die Therapie?

Pfingsten: Schmerztherapie ist aktivierende Therapie, nicht nur in körperlicher Hinsicht. Es werden Strategien gelehrt, um raus aus dem Krankheitsverhalten rein ins Leben zu kommen. Die Techniken setzen im Denken an: Wie findet man aus Gedankenspiralen raus, die einen nur noch im Schmerz verhaften lassen? Und es gibt Techniken, mit denen man sein Verhalten ändern kann, sodass man aus diesem Schmerzverhalten rauskommt.

SPIEGEL ONLINE: Was ist von Biofeedback zu halten?

Pfingsten: Biofeedback ist eine sehr gute Methode, um dem Patienten die Verbindung zwischen Körperreaktionen und Psyche zu verdeutlichen, die für viele Menschen schwer zu verstehen ist. Beim Elektromyographie-Biofeedback werden Elektroden an die Muskeln angelegt. Die Muskelspannung wird gemessen und elektrisch umgewandelt in ein optisches oder akustisches Signal, zum Beispiel eine hohe Muskelspannung in einen hohen Ton. Dann sehen oder hören Patienten quasi ihre Muskelspannung.

SPIEGEL ONLINE: Wie kann das in der Therapie angewendet werden?

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Pfingsten: Wenn man Rückenschmerzpatienten unter Stress setzt, indem man ihnen etwa eine schwierige Aufgabe gibt, dann hören oder sehen die Patienten selbst, wie sich ihre Muskelspannung verändert. Man kann damit wunderbar zeigen, wie der Körper auf psychische Zustände reagiert. Damit kann man zum Beispiel Patienten trainieren, indem man ihnen die Aufgabe gibt, die Muskelspannung möglichst niedrig zu halten. Auf diese Weise kann man lernen, Muskelspannungen wahrzunehmen und selbst zu beeinflussen.

Das Interview führte Frederik Jötten