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Amtlich Die wichtigsten Metal-Alben des Monats

Okay, schon klar: Wacken startet. Aber sollen wir deshalb auf "Amtlich" verzichten? In der neuen Ausgabe der Metal-Kolumne lässt sich Thorsten Dörting texanische Märchen von Fair To Midland erzählen. Jan Wigger hört Xasthurs Totenorgel und erlebt Heulkrämpfe mit Ghost Brigade.

Fair To Midland - "Arrows & Anchors" (eOne/ Season Of Mist, bereits erschienen)

Freunden des Molkereiwesens ist die Kleinstadt Sulphur Springs in Texas sicherlich ein Begriff, denn im dortigen Southwest Dairy Museum informiert die amerikanische Milchwirtschaft über Käse und Joghurt sowie die eigene, rahmreiche Geschichte, von montags bis freitags von 9 bis 16 Uhr können Besucher dort zum Beispiel beim Sahnemachen zugucken, wie schön. Wer dem Studium der Farmerskünste dagegen eher indifferent gegenüber steht, den dürfte das Örtchen langweilen. Laut letztem Zensus leben gerade mal 14.551 Einwohner mitten in der Einöde von Hopkins County, und der Eintrag in der englischsprachigen Wikipedia belegt, wie die Einwohner aus purer Verzweiflung selbst kleinste Ereignisse in der Historie der H-Milch-Metropole zu Zäsuren hochsterilisieren, haben Sie den ranzigen Witz bemerkt? Egal, jedenfalls ist bei Wiki ernsthaft zu lesen, dass im Sulphur Springs der frühen Neunziger ein Mann namens Joe Bob Burgin einen Convenience Store eröffnet hat, in dem er neben Soft Drinks auch Gartenhandschuhe (!!!) verkauft, und der Gastronom Larry Nalls, der den schönen Spitznamen Scary Larry trägt, betreibt den "127 Club". Wer sich von diesem Etablissement und dessen Gästen mal einen wirklich bleibenden Eindruck verschaffen will, kann nach der Lektüre dieser Kritik hier auf der Facebook-Seite dieser Bar herumstöbern , viel Spaß, liebe Leser, Sie werden ihn haben. Aber was soll nun all das Geseier über dieses Kuh-Kaff? Na ja, man fragt sich einfach, wo die Masterminds einer Band aufgewachsen sind, die so schratig einzigartig klingt wie Fair To Midland.

Der durchschnittliche deutsche Hartwurst-Esser ("Ey, Hansi, einmal 'Bard's Song' mit Pommes Schranke, bidde") müsste diesen Text übrigens gar nicht lesen, er wird "Arrows & Anchors" so sehr goutieren wie ein an Laktoseintoleranz Leidender eine Runde Freimilch. Das vierte und beste Album der fünf Texaner klingt, als hätte Helena Bonham Carter ihrem Gatten Tim Burton statt Zucker ein paar Würfel Crystal Meth in den Morgenkaffee gekippt, worauf der bis zum Haaransatz zugeknallte Film-Phantast sein gesamtes cineastisches Œuvre in 15 märchenhaft-versponnene Lieder gießt, um danach seine Abofresse Johnny Depp vors Mikro zu zerren, ihm dazu noch eine Axt, ein Keyboard und ein Drumkit umzuhängen und mit einem irren Kichern ins Ohr zu flüstern: So, Johnny, spiel meine Songs jetzt mal, mach ma' Metal. Und der macht.

Depp ist sowieso eine gute Referenz, weil Sänger Darroh Sudderth, Chefhirni der Band, mitsamt seinem Bartmodeversuch und seinen ADHS-Zuckungen nicht nur optisch an den Schauspieler erinnert, sondern ähnlich traumwandlerisch durch Songgebilde wie "Whiskey & Ritalin" oder "Rikki Tikki Tavi" hüpft wie Depp im ersten Teil seiner Piraten-Saga durch die Karibik. Sudderth' Organ ist eine echte Show, eine Formulierung, die natürlich peinlich ist, aber er brüllt, growlt und, tja, singt nun mal mit ungemeiner Varianz und Kunstfertigkeit, was den hervorragend instrumentierten und arrangierten Kompositionen oft genug einen poppigen Anstrich verleiht - weswegen der durchschnittliche deutsche Hartwurst-Esser wirklich endlich aufhören sollte, diesen Text zu lesen. Mit den Genre-Etiketten Prog Metal, Alternative Metal (eklig!) oder Nu Metal (richtig iiiiih!) ist die Musik von Fair To Midland übrigens so erschöpfend beschrieben, wie Metallica mit dem Wort laut, das war Ironie, bitte beachten. Ach ja, und wer diese Band mit den manierierten Oberstufenproggern von Muse zu vergleichen wagt, wird von mir persönlich pasteurisiert, denn es gilt: So herrlich verrückt muss Landliebe sein.(Gesamtwertung: 8) Thorsten Dörting


Anspruch: Ein märchenhaftes Musical aus einer fremden, fernen Welt zur Aufführung bringen. (9)

Artwork: Wie soll denn bitte dieses Kornkreis-Symbol auf eine grüne Hügelwiese kommen?! Ihr Bauernlümmel, damit legt ihr ja nicht mal Mel Gibson rein. (7)

Aussehen: Der Depp. Na ja, und seine vier Metal-Matrosen. Aber was soll dieses Hard-Aerobic-Video? (7)

Aussage: Chemie und Wahnsinn. Oder: Ich wusste gar nicht, dass Kuhdung-Methan auch high macht! Wie sonst erklärt man sich Zeilen, deren Verfasser wortwörtlich einen an der Pfanne hat? "If you meet the Devil's wife/ Make sure you wear a suit and tie/ And leave them where he stands/ If he tries to shake your hand/ just hit him with her frying pan." (7,5) Thorsten Dörting

Xasthur - "Portal Of Sorrow" (Viva Hate Records / Cargo, bereits erschienen)

Auf einen guten Ratschlag hin sah ich mir am Wochenende ein YouTube-Interview mit der amerikanischen Black-Metal-Band Liturgy an, deren zweite LP "Aesthethica" mir bislang ausgesprochen gut gefiel. Jetzt nicht mehr, denn Sänger Hunter Hunt Hendrix (C'mon...really???) ist einer dieser schmierigen kleinen Ivy-League-Fuzzis mit Keane-Frisur und so etwas wie einem StudiVZ-Profil, der auch bei Tageslicht Konzerte gibt und zwischen Frühstück (Cornflakes mit geschälten Äpfeln) und Abendbrot ("Mini Milk"-Erdbeer) ein offiziöses Manifest zum "Transcendental Black Metal" verfasst hat. Fuck you, Hunter Hunt Hendrix! Seit wann dürfen grinsegesichtige, Designerklamotten tragende Kunststudenten aus New York überhaupt Black Metal machen (oder hören)?

Malefic von Xasthur wenigstens war immer schon evil: Nun entsteigt Väterchen Frust, dessen letztes Todesröcheln so klingt, als habe der Zwerg von Abruptum ihm sämtliche Akupunkturnadeln aus Takashi Miikes Film "Audition" gleichzeitig in den Anus gerammt, ein letztes Mal seiner Schwermutsgruft: "Portal Of Sorrow" ist Xasthurs Abschiedsalbum. Wahrscheinlich auch deswegen, weil er langsam Depressionen von seiner eigenen Musik bekam: Die Wucht früherer Xasthur-Granitblöcke wie "May Your Void Become As Deep As My Hate" ist dahin, jetzt herrscht nur noch Wimmern. Zum wahnsinnig dünnen, kraftlosen Klang dieser schwächsten aller Xasthur-Platten krächzt Malefic wie Beaker aus der "Muppet Show", dazu Hui-Buh-Keyboards, kaum wahrnehmbare Elektrische-Zahnbürste-Gitarren, ein paar müde "Halloween 4"-Effekte und die leise weinende Totenorgel aus "Schlafes Bruder". Die Songs dazu heißen "Horizon Of Plastic Caskets" (im Ernst!), "Miscarriage Of The Soul" und "Funeral Of Being (Bonustrack)", denn Malefic hat nach dem Schreiben unzähliger Songs schlicht und einfach keinen Bock mehr, den Alejandro Jodorowsky des schlecht riechenden depressive suicidal black metal zu geben. Ist auch besser so, denn wer kein Hardcore-Fan von Marissa Nadler (die Xasthurs Schwanengesang hauchend untermalen darf) ist, hält sich besser an "Subliminal Genocide" oder "Telepathic With The Deceased". Und nun: Deckel zu, Misanthrop aus der Mülltonne. (Gesamtwertung: 4,5) Jan Wigger

Anspruch: Die Ein-Mann-Weltverneinungsmaschine hört privat gern Boston und The Who, hat Xasthur aber so ausgerichtet, dass alle Plattenkäufer automatisch so schlecht draufkommen wie er selbst, ohne dafür einen Tonträger von Samsas Traum erwerben zu müssen. Genialer Plan, aber: Dann doch lieber 'ne Runde Malefiz! (6)

Artwork: Das Ding kam streng limitiert mit pechschwarzer Holztafel (alle Songtitel sind eingraviert!) und weißer 7". Da Malefic allem Anschein nach mit Anna-Varney Cantodea in einem möblierten Erdloch wohnt, kann man den beiden für diese Gemeinschaftsarbeit nur danken. (9)

Aussehen: Relativ gängiges, geschmackvolles Corpsepaint, falls man doch mal einkaufen gehen muss. Einen Platz im unsterblichen Booklet von Immortals "Battles In The North" bekommt der Mann mit dem eingebauten Depri-Trip so aber nicht mehr. (7)

Aussage: Verlasse niemals das Haus (bzw. Erdloch), gib keine Interviews, spiele niemals live - und du wirst "Arschbombe des Monats". (9,5) Jan Wigger

Graveyard - "Graveyard" (Nuclear Blast, erscheint am 19. August)

"Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben", an diese Weisheit von Großväterchen Gorbi musste ich denken, als im März dieses Jahres "Hisingen Blues" erschien und unsere Metal-Kolumne noch immer nicht an den Start gegangen war, wir das Album ergo unbesprochen lassen mussten, so ein Mist. Dabei beweisen - Obacht, jetzt wird's dialektisch! - doch gerade Graveyard, dass zu spät kommen nicht immer ein Fehler sein muss. Man muss halt nur richtig ordentlich zu spät kommen, in diesem Fall also rund vierzig Jahre, dann passt wieder alles, das ist in der Musik so wie in der - jetzt wird's noch dialektischer! - in der Musikkritik. In wenigen Tagen erscheint nämlich bei Nuclear Blast Graveyards gleichbetiteltes Debütalbum aus dem Jahr 2007 als Re-Release, der Vorgänger des besagten "Hisingen Blues", und - gelobt sei unser Heavy-Geldschneider-Label aus dem Ländle! - Graveyard kommen daher jetzt früher zu "Amtlich"-Ehren, als zunächst im März dieses Jahres befürchtet. Denn einen Re-Release kann man den Lesern ja durchaus mal als quasi neues Album unterjubeln, oder?

Wer den nur scheinbar sinnlosen ersten Absatz dieser Kritik aufmerksam gelesen und früher beim Fernseh-Kopfrechnen mit Graf Zahl nicht gepennt hat, wird gemerkt haben: Graveyard? Vierzig Jahre zu spät?? Die machen dann wohl watt mit Frühe-Seventies-Mucke, oder???!!! Und richtig! Sir Lord Baltimore, Led Zeppelin, Blue Cheer, Pentagram und andere standen hier musikalisch Pate und außerdem steht natürlich noch Satan brav Gewehr bei Teufelsfuß, zumindest textlich gesehen. Die New Wave Of Northern Occult Rock (Ghost, Year Of The Goat, The Devil's Blood, Blood Ceremony, Jex Thoth) rollt mit den Schweden von Graveyard aber eher in schmutzig-bluesige Gewässer, ein bisschen klingen die vier so wie der introvertierte, manisch-depressive Bruder der in der letzten "Amtlich"-Ausgabe hochgejubelten Rival Sons, der es statt auf Geld und Sex mit der Cheerleaderin eher auf Geld und Sex mit Mia Farrow in "Rosemary's Baby" abgesehen hat. Hier wird zur Flasche Whiskey eher eine Tüte Gras oder LSD-Pillen als das Kondom gereicht, was eine korrekte Sache ist, denn Drogen machen einen ja im Zweifelsfall nicht ganz so kaputt wie Frauen. Okay, dafür fünf Tacken ab in die Weinerlicher-Macho-Kasse, und da jetzt eh alles egal ist, schmeiße ich 8 Punkte hinterher. Thorsten Dörting

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Anspruch: Unverhohlene Regression. "Digital ist besser", finden Tocotronic. Analog ist geiler, finden Graveyard. (9,5)

Artwork: Ätherisch-stylisch. "Gugge mal, Lisbeth, datt Fräulein da mit der Walle-Walle-Mähne hat aber ein mächtiges Schuppenproblem, der wächst ein Dämon auf'm Kopp!" Das sieht in Schwarz auf beigefarbenen Hintergrund aber top aus und wird als T-Shirt an meine Frisörin und mein Alter Ego verschenkt! (8,5)

Aussehen: Schwedische Fußballer, Rocker und Elche sehen ja immer aus wie frisch mit Perwoll gewaschen und extra für den H&M-Katalog zurechtgestutzt, selbst wenn sie von Janis Joplins Oma eingekleidet worden sind und sich die Haare mit Lätta waschen. Neid. (9)

Aussage: Sich der spätkapitalistischen Verwertungslogik nicht durch romantisierende Innerlichkeit zu entziehen (Nehmt das, Ihr Neo-Folk-Penner und Bon-Iver-Fans!), sondern durch ernsthaft vorgetragenes Satanistentum. Lieber kindisch irre als erwachsen kaputt. (7,5) Thorsten Dörting

Ghost Brigade - "Until Fear No Longer Defines Us" (Season Of Mist, erscheint am 19. August)

Von Marseille aus lenkt der "Metal Hammer"-Autor und passionierte Festivalgänger Gunnar Sauermann die PR-Geschicke des Labels Season Of Mist. Von der neuen Ghost Brigade, so erzählte er recht früh, seien sie alle begeistert. Und es reicht das erste Stück "In The Woods", um zu verstehen: Wer sich nach der vorletzten While-Heaven-Wept-Platte noch immer keinen Strick im "Praktiker"-Baumarkt gekauft hat, der wird dies jetzt nachholen, denn dieser vierminütigen Melancho-Keule reichen akustische Gitarren und die gebrochenen Totengräber-Vocals von Manne Ikonen (einem dieser Finnen, der auch ohne Samaani Lingonberry Glögi und Kaurismäki-Filme chronisch missgelaunt ist), um dich auf einen Schlag alles hinwerfen zu lassen. Komisch übrigens: Immer dann, wenn einem Metal-Typen aus meiner Bekanntschaft ein Folk-Song wie "In The Woods" (oder "Coil" von Opeth) gefällt und ich ihm daraufhin etwas von Phil Ochs oder Joni Mitchell empfehle, muss er sich gleich übergeben. Deshalb gibt es auf "Until Fear No Longer Defines Us" zusätzlich die bei manchem Hartwurst-Aficionado so beliebten Growl-Parts, die mir "Traces Of Liberty" oder "Breakwater" etwas vermiesen: Ich selbst bin zu alt dafür, und mein Nachbar meinte, ohne das Gegröle seien Ghost Brigade die bessere Band und er könne in Ruhe "Danni Lowinski" gucken. Dem gern genommenen Vorwurf, dass die ruhigen Stellen der Platte Kitsch und die Brüll-Attacken Quatsch sind, entgehen Ghost Brigade auf die natürlichste Art und Weise: In den Erinnerungsarbeiten der betrübten Finnen gehören Einbruch und Aufbruch unteilbar zusammen. Wie bei Tiamat, Katatonia, Anathema, den frühen Paradise Lost und allen anderen Pink-Floyd-Adepten, die uns einmal retteten, als nichts mehr ging. (Gesamtwertung: 7,5) Jan Wigger

Anspruch: Boris Kaiser zum Weinen bringen. (8)

Artwork: Oberamtliche Mischung aus Caspar David Friedrich (im Dunkeln), "Blashyrkh (Mighty Ravendark)" (im Dunkeln, ohne Immortal) und dem Stadtwald Bremen, in dem ich vor zwei Wochen unangenehm auffiel, weil mein Corpsepaint schon bei den ersten Regentropfen zerlief. Es war 21:57 Uhr. (7,5)

Aussehen: Sehen von weitem aus wie Linkin Park. Überhaupt bin ich skeptisch, ob diese endlose Traurigkeit nicht doch nur gespielt ist. Schätze mal, Ghost Brigade haben alles im Griff. Wahrscheinlich kennen sie sogar Anja Müller-Lochner. (6,5)

Aussage: Nach James Joyce verwenden Ghost Brigade zu ihrer Verteidigung nur ganze drei Waffen: Schweigen, Exil und List. Es ist unmöglich, dem zu widersprechen. (9) Jan Wigger


Wertung: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)