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SPIEGEL ONLINE

Netzwerk-Relaunch Facebook will Lebensarchiv werden

Mark Zuckerberg will alles: jedes Kochrezept, jeden gesehenen Film, jeden gehörten Song. Geburten, Hochzeiten, Zeugnisse. Facebook soll zentrales Lebensarchiv all seiner Nutzer werden und Angelpunkt allen Medienkonsums. Die Pläne sind atemberaubend - und für manche Branche furchteinflößend.

Alle Fotos, alle Videos, alle gelesenen Bücher, jedes selbstgekochte oder im Restaurant eingenommene Essen, überhaupt alle Lebensereignisse in einer Art Endlos-Steckbrief vereint, unten die Geburt, oben die Gegenwart - das ist Facebooks neue Vision von der eigenen Rolle im Leben seiner Nutzer. Bei der Entwicklerkonferenz F8 stellte Facebook-Gründer Mark Zuckerberg fundamentale Änderungen des größten sozialen Netzwerks der Welt vor. Mehr als 100.000 Nutzer rund um den Globus verfolgten den Livestream des Vortrags.

Alle Neuerungen haben ein zentrales Ziel: Die Nutzer der Netz-Community sollen möglichst viele Aspekte ihrer alltäglichen Existenz mit ihrem digital verknüpften Freundeskreis teilen - und damit gleichzeitig mehr Information als je zuvor auf den Servern des Datenkonzerns Facebook hinterlassen. Facebook soll zur totalen Archiv- und Konsumplattform werden, zum Spiegel der Existenz von Hunderten von Millionen. Und damit zum effektivsten, attraktivsten Werbeumfeld in der Geschichte. Denn wer alles über seine Kundschaft weiß, kann ihr auch in idealer Weise Produkte anpreisen.

Zentrale Punkte: Timeline und Open Graph

Zuckerberg stellte, nach einem kurzen, durchaus bissigen Auftritt des US-Komikers Andy Samberg, die Neuerungen persönlich vor. Die zwei zentralen Säulen seiner Präsentation: eine neue Facebook-Zentrale namens Timeline, die das herkömmliche Social-Network-Profil ersetzen soll, und drastische Erweiterungen dessen, was bei Facebook "Open Graph" heißt - der Mechanismus, dass bei Facebook unternommene oder mitgeteilte Dinge automatisch dem eigenen digitalen Bekanntenkreis mitgeteilt werden. Auch dann, wenn der Nutzer gar keinen Facebook-eigenen Dienst, sondern eine von externen Entwicklern angebotene App innerhalb des sozialen Netzwerks nutzt. Wer wo joggen geht, was er kocht, welche Musik er hört - all das soll ganz automatisch archiviert werden, für alle Ewigkeit auf den Servern Facebooks gespeichert werden. Ein digital-multimediales Tagebuch.

Stichwort "Lifestream"

Timeline erinnert an das, was unter dem Stichwort "Lifestream" schon seit Jahren als nächste große Killeranwendung digitaler Technologie prognostiziert wird: die halb selbstbestimmte, halb automatische Aufzeichnung aller Aktivitäten des Nutzers. Vom hochgeladenen Foto von der ersten Freundin über eine auf einer Landkarte markierte Route der eigenen Hochzeitsreise bis hin zu einem Video von den ersten Schritten des eigenen Nachwuchses.

Fotostrecke

Facebook: Digital-soziales Tagebuch

Foto: LUCY NICHOLSON/ REUTERS

Bislang, sagte Zuckerberg, sei es bei Facebook unendlich schwierig, über jemanden mehr herauszufinden als die unmittelbaren Profilangaben - Alter, Ausbildung, Hobbys etc. - und aktuelle Ereignisse. "Alles, was schon ein bisschen länger zurückliegt, rutscht unten von der Wall herunter und verschwindet nahezu vollständig." Die neue Timeline soll aus dem gewaltigen Wust an digitaler Information, den ein habitueller Facebook-Intensivnutzer im Laufe der Zeit erzeugt, eine gewichtete, chronologisch geordnete Sammlung all der im Netzwerk mitgeteilten Informationen machen. "Wichtige" Ereignisse sollen sichtbar bleiben, weniger wichtige werden zusammengeklappt und nur auf Wunsch wieder hervorgeholt. Je weiter der Nutzer in der Zeit zurückgeht - also je weiter nach unten er auf einer Endlosseite scrollt - desto konzentrierter, kondensierter werden die Schnipselchen. Zuckerberg selbst zeigte als Beginn seiner eigenen Timeline ein Babyfoto von sich selbst aus dem Jahr 1984.

Der Nutzer soll natürlich auch die Möglichkeit haben, dem Algorithmus ins Lenkrad zu greifen, Ereignisse, Fotos, Joggingstrecken selbst für wichtig oder unwichtig zu erklären, sie sichtbar oder unsichtbar, sie nur engen Freunden, dem ganzen Bekanntenkreis oder aller Welt zugänglich zu machen. "Wir geben Ihnen die Möglichkeit, die Geschichte Ihres eigenen Lebens zu kuratieren", sagte Zuckerberg ernsthaft und ohne jeden Anflug von Ironie.

Niederschwellige Konsumentenbeobachtung

Weil das Ziel von Facebook ist, so viel Information wie möglich über seine Nutzer anzusammeln, jedem einzelnen Nutzer aber natürlich nur eine begrenzte Zeit zum Mitteilen zur Verfügung steht, werden den Apps innerhalb von Facebook zudem größere Rechte eingeräumt. Man werde in vielen Fällen nicht mehr die Aufforderung sehen müssen, "wollen Sie dies auf Facebook mitteilen?", sagte Zuckerberg. Viele Apps, etwa solche, die einem das Hören von Musik oder den Konsum von Fernsehserien innerhalb von Facebook erlauben, machen ihre Nachrichten künftig selbst. Mehr Information fürs Netzwerk, gleicher Aufwand für den Nutzer, das ist die Logik.

Diese niederschwellige Art der Konsumentenbeobachtung soll den eigenen Facebook-Freundeskreis aber nicht belästigen. Sie wird deshalb in einen sehr Twitter-artigen, bereits vor der F8 vorgestellten Seitenstreifen namens "Ticker" ausgelagert. Dort wird ständig zu sehen sein, was die eigenen Netzwerkkontakte gerade in diesem Moment tun. Wer liest, dass ein Freund gerade über die Spotify-Musik-App einen bestimmten Song hört, kann mit zwei Klicks einsteigen und synchron den gleichen Song hören, die gleiche Serienfolge (via die TV-Serien-Streaming-Plattform Hulu) oder den gleichen Film (via die Film-Streaming-Plattform Netflix) sehen. Wenn mehrere Freunde gerade das Gleiche tun oder kürzlich getan haben, merkt das ein Algorithmus und verschiebt die Information ins eigentliche, langsamere, wichtigere Newsfeed. "4 Freunde haben gerade einen Film mit Johnny Depp gesehen."

Facebook will zum globalen Sofa werden. Filme, Musik, TV-Serien - all das sei fundamental sozial, sagte Zuckerberg. Mit Facebook als neuem zentralen Knotenpunkt könnten diverse Branchen "von Grund auf neu gedacht werden". Dem einen oder anderen in Hollywood oder der Chefetage eines großen Musiklabels dürfte bei diesen Worten ein Schauer über den Rücken gelaufen sein. Auch soziale "News Apps" wurden vorgeführt, als Beispiele demonstrierte der Facebook-Chef eine Anwendung der "Washington Post" und die von Rupert Murdochs iPad-Zeitung "The Daily".

Funktionieren wird all das allerdings nur, wenn die Facebook-Nutzerschaft auch mitmacht. Das ist keineswegs gesagt - auch Social-Network-Nutzer haben ihre konservativen Seiten, und längst nicht jede Änderung wird begrüßt und angenommen. Vergangenes Jahr stellte Facebook eine zentrale Kommunikationsplattform vor, die SMS, E-Mail, Facebook-Nachrichten und Instant Messaging vereinigen sollte, jede Art von digitaler Kommunikation sollte künftig über Facebooks Server gelenkt werden. Bis heute hat sich dieser Dienst nicht durchgesetzt.

Diversen Branchen die Bedingungen diktieren

Wenn die Neuerungen jedoch ankommen, kann Zuckerberg bald diversen Branchen ebenso die Bedingungen diktieren wie Apple-Chef Steve Jobs das mit iTunes in der Musikindustrie getan hat und seit Einführung des iPads auch mit der Verlagsbranche tut. Das Pfund, mit dem Facebook dabei wuchern kann: 800 Millionen Nutzer. In der vergangenen Woche habe es eine Premiere gegeben, verriet der Facebook-Chef zu Anfang seiner Präsentation: "Eine halbe Milliarde Menschen waren gleichzeitig auf Facebook." Für die Branchen, die nun ihre Inhalte als soziales Schmiermittel für Facebooks neue digital-sozial-archivarische Rundumversorgung zur Verfügung stellen sollen, ist diese Zahl das wohl schlagendste Argument der F8-Tagung. Die Chefs von Spotify und Netflix kamen persönlich vorbei, um ihrer Begeisterung über die Umarmung Ausdruck zu verleihen. Mit Hulu als weiterem Kooperationspartner hat Facebook Zugriff auf einen gewaltigen multimedialen Schatz. Das Aushandeln von Nutzungsrechten überlassen die Netzwerker Spotify und Co.

Zuckerbergs schlichte Botschaft ist: Wir organisieren das digitale Sozialleben weiter Teile der entwickelten Welt. Unsere Plattform wird als Kommunikations-, Informations- und Unterhaltungszentrale für immer mehr Menschen unverzichtbar. Das soziale Netz ist der zentrale Knotenpunkt des medialen Kommunikationsverhaltens der Zukunft. Entweder ihr macht mit - oder ihr geht unter.