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Fördern und Fordern Schalter für Stress

Die Gene sind nicht an allem schuld: Die Umwelt, also auch die Erziehung, entscheidet, welche Anlagen sich entfalten. Die frühkindliche Prägung wiederum hinterlässt Spuren im menschlichen Erbgut.
Eineiige Zwillinge (2005 in New York): Gleiche Gene, gleiche Chancen?

Eineiige Zwillinge (2005 in New York): Gleiche Gene, gleiche Chancen?

Foto: SETH WENIG/ REUTERS

Bei den Ratten ist es wie bei den Menschen: Es gibt solche und solche Eltern. Manche hegen und pflegen ihre Kinder. Andere sind distanziert und vernachlässigen ihren Nachwuchs.

Im Unterschied zu den Zweibeinern lässt sich Elternliebe bei den flinken Nagern recht einfach messen. Ein fürsorgliches Rattenweibchen leckt und pflegt seine Jungen regelmäßig. Die Rabenmütter unter den Rattenmüttern machen das seltener oder gar nicht.

"Licking and grooming" heißt das Verhalten im Fachjargon, dessen Untersuchung Genforscher und Erziehungswissenschaftler in den vergangenen Jahren gleichermaßen elektrisierte. Es scheint überzeugende Antworten auf das große Menschheitsrätsel zu liefern: ob Lebewesen, und damit auch der Mensch, durch ihr genetisches Erbe geprägt sind oder durch ihre Umwelt. Körper oder Kultur, Vorbestimmung oder Eigenmacht, so lautet das Gegensatzpaar, das die englischen Begriffe "nature" (Natur) versus "nurture" (Pflege, Erziehung) besonders prägnant zusammenfasst.

Der aktuelle Erkenntnisstand nimmt Eltern auf besondere Weise in die Pflicht, und das hat viel mit den Rattenweibchen zu tun. Sie standen nämlich in einem mittlerweile berühmt gewordenen Experiment im Jahr 2004 unter Langzeitbeobachtung des Neurowissenschaftlers Michael Meaney und des Genetikers Moshe Szyf von der McGill University im kanadischen Montreal. Die beiden Wissenschaftler untersuchten zwei Gruppen Laborratten, von denen die einen "high licking and grooming mothers" waren und die anderen "low licking and grooming mothers".

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Das Wissen um die DNA: Was Gene verraten

Foto: ANTHONY PHELPS/ Reuters

Als Meaney und Szyf das Erbgut der von diesen Rattenweibchen aufgezogenen Jungen untersuchten, stellten sie erstaunliche Unterschiede fest: Bei den von den Müttern vernachlässigten Ratten war ein bestimmtes Gen, welches stressauslösende Hormone reguliert, mit besonders vielen sogenannten Methylgruppen gespickt und damit abgeschaltet. Diese Ratten zeigten sich folglich anfälliger für Stress und waren schnell überlastet, wenn man sie vor Herausforderungen stellte - ganz im Gegensatz zu den behütet aufgewachsenen Tieren.

Meaney und Kollegen wiesen auch nach, dass gehegte Rattenbabys später selbst eher fürsorgliche Eltern werden, während einstmals vernachlässigte Kinder später selbst zur Kaltherzigkeit neigen.

Nun stammt der Mensch zum Glück nicht von der Ratte ab. Doch Forscher Szyf ist überzeugt, "dass das Tiermodell bis zu einem gewissen Grad das widerspiegelt, was bei uns Menschen passiert". Liegt er richtig, dann wären die Folgen weitreichend: Dann würden Eltern mit ihrer Art der Brutpflege die genetische Ausstattung ihrer Kinder prägen. Erste epidemiologische Studien mit Menschen legen nahe, dass es bei ihnen genauso abläuft.

Erziehung hat ein Lebens lang Auswirkungen auf einen Menschen

Dass Erziehung lebenslang Auswirkungen auf einen Menschen hat, ist ein Gemeinplatz von Psychologen und Erziehungswissenschaftlern. Doch mittlerweile weiß man immer mehr darüber, wie dieser Prozess abläuft. Ausgerechnet die Gene spielen eine zentrale Rolle, jene Erbanlagen, die Naturwissenschaftler lange Zeit als allmächtig und unveränderlich darstellten. Ob jemand als Mensch ruhig oder jähzornig ist, dünn oder dick, fleißig oder faul, darüber bestimmten laut dem lange gängigen Gen-Glauben jene 21.500 Bauanleitungen für Eiweiße, die im Zellkern enthalten sind. Irgendwo in der Desoxyribonukleinsäure, in den Chromosomen, musste für menschliche Eigenschaften eine Programmierung angelegt sein. Wissenschaftler machten sich auf die Suche nach dem Darmkrebs-Gen, dem Depressions-Gen, dem Kettenraucher-Gen.

Mittlerweile ist dieses Modell überholt. Zwar liegen Gene vielen Wesenszügen zugrunde, doch sie sind keinesfalls unbeeinflussbar. "Tatsächlich reagieren sie lebenslang höchst empfindlich auf alle möglichen äußeren Einflüsse", schreiben die US-Wissenschaftler Gene Robinson, Russell Fernald und David Clayton im Fachblatt "Science". Und damit kommt plötzlich wieder die vor kurzem von Naturwissenschaftlern noch als eher schmückendes Beiwerk angesehene Erziehung zu ihrem zentralen Recht.

Lange galt als ausgemacht, dass die Intelligenzunterschiede zwischen Menschen zu 80 Prozent auf Erbanlagen zurückzuführen sind. Mittlerweile geht die Forschung von maximal 50 Prozent fixem Gen-Beitrag aus - was einen ansehnlichen Spielraum für Eltern, Kindergärtner und Lehrer eröffnet.

Verantwortlich für den Wandel zeichnet auch die Epigenetik, eine vergleichsweise junge wissenschaftliche Disziplin. Deren Vertreter interessieren sich dafür, wie molekulare Mechanismen, vor allem auf dem Erbgut sitzende Methylgruppen und sogenannte Histone, Erbanlagen ein- oder ausschalten, so dass sie wirksam werden oder nicht - wie der Schalter für Stress bei den Ratten.

Sollten sich Frauen auf maximale Brutpflege verpflichten?

Der britische Genetiker Bryan Turner von der University of Birmingham vergleicht das Erbgut mit einem Tonband, auf dem Informationen gespeichert sind. "Ein Tonband nützt uns ohne Abspielgerät gar nichts. Die Epigenetik befasst sich mit dem Tonbandgerät."

Die Forschung an eineiigen Zwillingen hat eindrucksvoll bewiesen, dass sich zwei Menschen trotz identischem Erbgut unterschiedlich entwickeln können. Es ist sogar möglich, dass ein Zwilling an Schizophrenie oder Diabetes Typ 1 leidet, während der andere davon verschont bleibt. Erklärbar kann dies mit den abweichenden Lebensgeschichten sein, die sich epigenetisch einprägen, von der Jugend über die sportliche Aktivität, den sozialen Status bis hin zu Krankheiten.

Unsere Gene steuern uns, aber wir steuern auch unsere Gene, durch Erziehung, durch Lebensstil, durch geistige und körperliche Aktivität, durch unseren Umgang mit Menschen. Das Umfeld entscheidet mit, welche Anlagen sich entfalten. Es ist nicht nur wichtig, was in den Genen geschrieben steht, sondern auch, was die Gene erleben.

Daraus kann, wer will, für Eltern einen neuen kategorischen Imperativ folgern, diesmal nicht moralisch, sondern genetisch begründet: Handle so, dass du deinen eigenen Genen und denen deiner Kinder Gutes tust, so dass diese wiederum die besten Chancen haben, ein gelungenes Leben zu führen und die Menschheit weiterzubringen. Denn potentiell hat jedes Verhalten epigenetische Folgen. Wer seine Kinder vernachlässigt, verunsichert sie fürs Leben. Wer raucht oder sich schlecht ernährt, prädisponiert möglicherweise seine Kinder, selbst wenn die noch gar nicht gezeugt sind. Demnach können Eltern gar nicht genug Wert auf ein intaktes Umfeld ihrer Kinder legen. Ist das der wissenschaftliche Beleg dafür, dass die in den USA "soccer moms" genannten Vollzeitmütter epigenetisch das erwünschte Modell sind? Sollten sich Frauen auf maximale Brutpflege verpflichten? Fügt, wer auch eigenen Interessen nachgeht, seinem Nachwuchs Schaden zu?

Kinder sind dankbar für ein anregendes Umfeld

An den Maximen gelungener Erziehung ändert sich durch die Forschungsfortschritte wenig. Die Untersuchungen bestätigen eher, was der gesunde Menschenverstand oder die Elternliebe sowieso schon nahelegten: Es nutzt dem Gedeihen eines Kindes, wenn sich eine Person um das Kleine kümmert, die seine Wünsche erkennt, es fördert und ihm eine stabile emotionale Bindung bietet - das muss nicht notwendigerweise die Mutter sein. Es ist nützlich, wenn die Eltern die Werte, die ihnen wichtig sind, auch selbst vorleben. Kinder sind dankbar für ein anregendes Umfeld, denn sie wissen Impulse auch umzusetzen. Ob das nun unbedingt Kindergarten-Englisch sein muss oder Baby-Yoga, darüber sagt die Epigenetik nichts.

So viel scheint jedenfalls gesichert: Ein Mangel an Geborgenheit und elterlicher Zuwendung in den ersten Lebensjahren kann die psychische oder physische Gesundheit eines Menschen bis ins Erwachsenenalter beeinflussen. Das belegt zum Beispiel die "Mannheimer Risikokinderstudie", für die Wissenschaftler Hunderte Männer und Frauen auf deren Lebensweg von Geburt an begleiteten. Viele der Probanden wurden in schwierige Familien hineingeboren, die Eltern waren suchtkrank, hatten psychische Störungen oder waren selbst noch Halbwüchsige.

Als die Kinder 19 Jahre alt waren, wurden 279 von ihnen zur Blutabnahme ins Labor gebeten. Dabei stellten die Wissenschaftler fest, dass Abkömmlinge aus Risikofamilien häufig einen Mangel von Apolipoproteinen A1 und HDL aufwiesen, zwei Stoffen, die beim Abtransport von überschüssigem Cholesterin aus dem Blut eine Rolle spielen. Sie waren mithin schlechter vor Fettleibigkeit, einem Herzinfarkt oder Schlaganfall geschützt. Eine Hypothek, die ihnen wahrscheinlich ihre Herkunft epigenetisch auferlegt hatte. Kanadische Forscher um Moshe Szyf wiesen bei Gen-Untersuchungen von 13 Suizidopfern nach, dass Misshandlungen in der Kindheit Gen-Blockaden durch Methylgruppen bewirken können - das frühe Trauma war diesen Menschen gewissermaßen eingeschrieben.

Auch später im Leben können stabilisierende Faktoren zum Zug kommen

Doch selbst wer in der Kindheit vom Leben gebeutelt wurde, hat die Chance, eine stabile Persönlichkeit zu entwickeln - das ist eine der hoffnungsfrohen Botschaften der neuen Forschung. Zwar weist die Epigenetik den ersten Lebensjahren prägende Kraft zu, doch können auch später im Leben stabilisierende Faktoren zum Zug kommen - die eigene Intelligenz und Willenskraft zum Beispiel, emotionale Beziehungen außerhalb der Familie, die Begeisterung für bestimmte Werte und Lebensziele.

So gelang es einem Drittel von rund 200 in einer Langzeitstudie beobachteten Kindern des Geburtsjahrgangs 1955 auf der hawaiianischen Pazifikinsel Kauai, trotz schwierigster Startbedingungen, zerrütteter Elternehen, Suchtproblemen, Armut, später ein gefestigtes Leben zu führen. Sie zeigten sich resilient, widerstandsfähig gegen Widrigkeiten, und zwar durch Schutzmechanismen, die sich offenbar teilweise erlernen lassen.

Jeden Fatalismus verbieten auch die Montrealer Rattenexperimente. Denn auch die Jungen einer "low licking and grooming mother" gediehen besser, nachdem sie in die Obhut einer liebevollen Pflegemutter gegeben worden waren. Sie zeigten sich nach einer gewissen Zeit ähnlich stressresistent wie die von Anfang an behütet aufgewachsenen Ratten - und sie entwickelten sich selbst zu fürsorglichen Eltern.