Zum Inhalt springen
Fotostrecke

Deutschland gegen Frankreich: EM-Aus in Marseille

Foto: ANNE-CHRISTINE POUJOULAT/ AFP

Deutsche Nationalmannschaft Es fehlt die Kälte vor dem Tor

Die DFB-Elf war im EM-Halbfinale gegen Frankreich spielbestimmend, feldüberlegen - aber hat einfach das Tor nicht getroffen. Plötzlich vermisst man Mario Gomez. Doch er allein ist nicht die Lösung.

Sechs Spiele hat die deutsche Nationalmannschaft bei dieser EM absolviert, sie hat dabei sieben Tore geschossen. Das haben die Franzosen in den vergangenen zwei Partien geschafft.

Die schlechte Chancenverwertung hat Bundestrainer Joachim Löw in der Vergangenheit schon wiederholt beklagt, aber ihm fehlten bei diesem Turnier auch die Spieler, die dafür hätten sorgen können, dies abzustellen. Eigentlich hatte Löw nur Mario Gomez, und der fehlte gegen Frankreich verletzt.

"Es hat heute einer gefehlt, der den Ball reinschießt", hat der wegen seiner Gelbsperre zum Zuschauen verurteilte Mats Hummels nach dem 0:2 von Marseille gesagt. Gomez konnte nicht spielen, Thomas Müller rannte sechs Spiele lang seiner Torgefahr hinterher, Julian Draxler trifft nur in Ausnahmefällen, Mario Götze ist nur noch ein Schatten, von André Schürrle sprach am Ende ohnehin keiner mehr.

Hinter Gomez klafft die große Lücke

Hummels hat noch angefügt: "Gegen so tief stehende Teams brauchst du in meinen Augen einen echten Mittelstürmer." Der Bundestrainer ist nie ein Fan von Mittelstürmern gewesen, er hat Gomez mitgenommen, weil er irgendwie gespürt hat, dass er ihn und seine Tore braucht. Aber es ist der einzige Job im Team, den Löw in seinem Kader nicht doppelt besetzt hat. Als Gomez ausfiel, fehlte der Ersatz.

Der Bundestrainer hat sich immer auf seine Offensive verlassen können, jahrelang galt der Fokus der Abwehr, die es zu stabilisieren galt. Jetzt hat Löw in der Defensive mit Hummels, mit Jérome Boateng, mit Benedikt Höwedes erstklassige Spezialkräfte, mit Jonas Hector sogar einen veritablen Linksverteidiger, und auf der rechten Seite ist der junge Joshua Kimmich auch auf einem guten Weg.

Fotostrecke

Deutschland in der Einzelkritik: Schweinsteigers Drama

Foto: VALERY HACHE/ AFP

Aber bei diesem Turnier hat ihn die Offensive im Stich gelassen, man hätte nicht gedacht, dass dies in der Ära Löw noch einmal passieren würde. "Vor dem Tor hatten wir Pech, ich will es nicht Unvermögen nennen", hat Torwart Manuel Neuer nach der Partie gesagt. Pech war sicher im Spiel, aber angesichts der deutschen Dominanz im Mittelfeld tauchte schon irgendwann zum Ende der ersten Halbzeit die Frage auf, warum dieses Team trotzdem noch nicht in Führung gegangen ist.

Müller steht für die unglückliche Offensive

Das besorgten stattdessen die Franzosen, "die wussten wahrscheinlich selber nicht, warum sie plötzlich vorne lagen", spottete Müller. Wobei er aufpassen musste, dass der Spott nicht auf ihn zurückfällt. Der Münchner, ansonsten der Torgarant in der deutschen Mannschaft, mühte sich in der Spitze, aber er kam immer einen Tick zu spät, ob beim Kopfball oder beim Versuch, den Ball mit seinen langen Beinen irgendwie ins Tor zu grätschen. Müller war die Personifikation des unglücklichen Offensivspiels bei dieser EM.

Löw hat im Lauf des Turniers beklagt, in Deutschland gebe es zu wenige Angreifer, die das Dribbling noch beherrschten, die erfolgreiche Eins-zu-eins-Situation. Aber das stimmt eigentlich nicht. Julian Draxler hat gegen die Slowakei bewiesen, dass er es kann. Es gibt die Leverkusener Julian Brandt und Karim Bellarabi, die dies durchaus beherrschen. Beide hat Löw vor dem Turnier aus seinem Kader gestrichen.

Fotostrecke

Grafische Analyse: Warum Deutschland das Endspiel verpasste

Foto: Tolga Bozoglu/ dpa

Was in Deutschland aber wirklich fehlt, das sind die Spieler, die die Kaltschnäuzigkeit, die Coolness, die Abgeklärtheit vor dem Tor haben. Für die der Strafraum des Gegners das eigentliche Revier ist. Es ist der gute alte Mittelstürmer, der in Deutschland - auch weil es so gewollt war - auf der Roten Liste der vom Aussterben bedrohten Spielertypen steht. Es gibt in Deutschland außer Mario Gomez keinen Mario Gomez. Löw wollte diese Spieler nicht in seinem Team haben, es widersprach seinem Verständnis von modernem Angriffsspiel. Er hatte Thomas Müller, und er hatte Mario Götze, die haben das Toreschießen erledigt. Aber beide sind bei diesem Turnier dafür ausgefallen. Und dann fiel die große Lücke auf.

Dem Leitbild der Nationalmannschaft haben sich in den vergangenen fetten Jahren viele angepasst, Vereine, Ausbilder, die Scouts, die Talentsucher - der spielende Angreifer, der flexibel einsetzbar ist, davon gibt es mittlerweile in Deutschland viele hochbegabte junge Spieler. Aber der Torinstinkt, die Kälte vor dem gegnerischen Torwart, das haben nicht viele. Und das dürfte sich auch in naher Zukunft nicht ändern.

Löw hat die Debatten um die richtige oder falsche Neun immer als irrelevant abgetan. Er wird sich notgedrungen wieder mit dem Thema befassen müssen. Das ist aus deutscher Sicht die Lehre aus der Europameisterschaft 2016.