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Philip Morris Tabakkonzern verlangt Herausgabe von Forschungsdaten

Philip Morris versucht, in Großbritannien auf juristischem Weg an Forschungsdaten heranzukommen. Der Tabakkonzern ist interessiert an der Befragung Tausender Jugendlicher, etwa zur Gestaltung von Zigarettenschachteln. Wissenschaftler fürchten nun um die Integrität ihrer Arbeit.
Raucher: Philip Morris verlangt Forschungsdaten

Raucher: Philip Morris verlangt Forschungsdaten

Foto: ? Alex Grimm / Reuters/ REUTERS

Jedes Jahr sterben weltweit rund sechs Millionen Menschen an den Folgen des Tabakkonsums, schätzen Wissenschaftler. Das macht mehr als 16.000 Tote pro Tag oder rund elf pro Minute. In Deutschland fordert der Tabakkonsum 110.000 bis 140.000 Todesopfer jährlich. Die überwältigende Mehrheit hat bereits im Kindesalter zum Glimmstengel gegriffen - und warum das so ist, versucht Gerard Hastings seit Ende der neunziger Jahre zu erforschen.

Tausende von Kindern und Jugendlichen hat der Direktor des Instituts für soziales Marketing gemeinsam mit seinem Team nach ihrer Einstellung zum Rauchen und zu den Werbekampagnen der Zigarettenindustrie befragt. Doch jetzt findet sich der Professor in einer für ihn unangenehmen Situation wieder: Seine Arbeit könnte demnächst einem Tabakkonzern helfen, Zigaretten noch besser an Kinder und Jugendliche zu verkaufen.

Mehrere britische Medien, darunter die Zeitung "The Independent" und die BBC, berichten am Donnerstag über den Versuch von Philip Morris International, an die Forschungsdaten aus Stirling zu gelangen. Der Hebel, den der Tabakkonzern ansetzt, ist ausgerechnet das britische Informationsfreiheitsgesetz (Freedom of Information Act, kurz FOI). Es verpflichtet öffentliche Institutionen zur Offenlegung von Daten und war damit eigentlich dazu gedacht, für mehr Bürgernähe und Transparenz zu sorgen.

"Hier geht es um Kinder"

Wie Hastings im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE erklärte, geht es um zwei Studien, für die in den vergangenen Jahren knapp 6000 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 13 bis 24 Jahren befragt wurden. Dabei ging es um Marketingmaßnahmen der Tabakkonzerne wie etwa die Gestaltung von Zigarettenschachteln. Philip Morris hat im September 2009 zunächst versucht, anonym an die Daten zu gelangen, indem eine Anwaltskanzlei mit der FOI-Anfrage beauftragt wurde. Der Information Commissioner, der Leiter der britischen Datenschutzbehörde, schmetterte den Antrag allerdings ab mit dem Hinweis, dass die Kanzlei ihren Auftraggeber nennen müsse.

Seitdem hat Philip Morris zwei weitere Anträge unter eigenem Namen gestellt. Auf den ersten wollte die Uni erst gar nicht antworten und wies ihn als "ärgerlich" zurück. Diesmal sah es der Information Commissioner anders: Am 30. Juni urteilte er, dass die Universität antworten müsse. Das hat sie inzwischen getan, die Herausgabe der Daten aber erneut verweigert.

Eine Sprecherin der Datenschutzbehörde sagte, Philip Morris könne einen neuen Antrag stellen. Sollte der Information Commissioner dann zu dem Schluss kommen, dass die Universität im Unrecht ist, könne er die Herausgabe der Daten anordnen.

Für Hastings wären die Folgen kaum auszudenken. "Hier geht es um Kinder", so der Forscher. "Tabakkonzernen würde es niemals gestattet sein, solche Daten selbst zu erheben." Sollte sein Institut zur Herausgabe der Daten gezwungen werden, "wäre das eine Katastrophe" - sowohl für die Freiheit der Wissenschaft als auch für die Zukunft der Forschung an seinem Institut.

Hastings befürchtet vor allem drei Folgen:

  • Junge Leute könnten das Vertrauen in die Wissenschaft verlieren. Zwar seien die Daten anonymisiert und daher nicht zu einzelnen Personen zurückverfolgbar. Doch den Teilnehmern sei auch schriftlich zugesichert worden, dass die Daten streng vertraulich und ausschließlich für wissenschaftliche Zwecke verwendet würden. "Philip Morris erfüllt diese Kriterien nicht ansatzweise", so Hastings.
  • Bisherige Geldgeber könnten dem Institut ihre Unterstützung entziehen. Wohlfahrtsverbände, beispielsweise im Bereich der Krebsmedizin, dürften wenig begeistert sein, wenn ihre Fördergelder der Marketingabteilung eines Tabakkonzerns zugute kämen.
  • Die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern anderer britischer und internationaler Institute könnte beeinträchtigt werden, da sie befürchten könnten, dass auch ihre Daten in die Hände von Tabakkonzernen fallen.

Die Frage, was genau Philip Morris mit den Daten bezweckt, ließ der Konzern unbeantwortet. Auf Anfrage hieß es lediglich lapidar, man wolle das Forschungsprojekt "besser verstehen". Studien wie die des Instituts in Stirling bildeten oft die Grundlage von Gesetzesentscheidungen. Deshalb sollte "diese öffentlich finanzierte Forschung uns und anderen Betroffenen offenstehen", hieß es. Zudem falle sie unter das Informationsfreiheitsgesetz. "Der Information Commissioner hat deutlich gemacht, dass die Anfrage von Philip Morris legitim ist", so die Sprecherin. Man sei nicht an privaten oder vertraulichen Daten einzelner Studienteilnehmer interessiert.

Hastings sagte jedoch, die Ergebnisse der Untersuchungen seien bereits in Fachblättern publiziert. Warum Philip Morris die Rohdaten einsehen wolle, könne er nur vermuten.

Lange Geschichte der Beeinflussung von Forschern

Es wäre es nichts Neues, wenn ein Tabakkonzern versuchen würde, die Wissenschaft zu manipulieren. Immer wieder haben die Firmen - darunter auch Philip Morris - enorme Summen an Forscher gezahlt. Insbesondere in Deutschland war diese Strategie erfolgreich, wie 2005 eine Untersuchung ergab. 

Auch auf anderen Wegen setzen die Konzerne ihre Macht ein, selbst Regierungen müssen sich vorsehen. So klagte Philip Morris - mit rund 77.000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von mehr als 27 Milliarden Dollar einer der größten Zigarettenhersteller der Welt - bei der Weltbank gegen die ambitionierte Tabakgesetzgebung Uruguays. Das südamerikanische Land versprach am Ende, das Gesetz nachzubessern. Auch in anderen Staaten - etwa in Brasilien, Irland, den Philippinen oder Mexiko - klagten Tabakkonzerne gegen Gesetzesinitiativen.

Europäische Regierungen bleiben davon nicht verschont. Im vergangenen Jahr verklagte Philip Morris die Regierung Norwegens wegen eines Tabakwerbeverbots. Die gewagte Behauptung eines Unternehmenssprechers: "Es gibt keine wissenschaftlichen Beweise, dass dieses Verbot irgendeinen gesundheitsfördernden Effekt hat."