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Studie Fast 40 Prozent der Europäer sind psychisch krank

Die Zahl ist alarmierend: Mehr als 160 Millionen Europäer leiden an einer psychischen Krankheit, nur eine Minderheit wird laut einer aktuellen Studie rechtzeitig behandelt. Den Schaden für die Volkswirtschaften schätzen die Forscher auf eine dreistellige Milliardenhöhe - pro Jahr.
Psychische Probleme: Dauerstress kann eine Depression fördern

Psychische Probleme: Dauerstress kann eine Depression fördern

Foto: Oliver Berg/ dpa

Hamburg - Angststörungen, Depressionen, Sucht: Psychische Krankheiten sind ein weit verbreitetes Problem in Europa. Sie treffen laut einer aktuellen rund 38 Prozent der Bevölkerung. Trotzdem finden die Betroffenen nur schwer Hilfe, beklagt ein Wissenschaftlerteam um Hans Ulrich Wittchen von der Technischen Universität Dresden.

Wittchen und seine Kollegen analysierten verschiedene Studien und andere Daten zu psychischen und neurologischen Krankheiten in 30 Ländern - der Europäischen Union sowie der Schweiz, Norwegen und Island. Wie die Forscher im Fachmagazin "European Neuropsychopharmacology"  berichten, leben in einem Zwölf-Monats-Zeitraum knapp 164 Millionen Menschen in diesen Nationen mit einer psychischen Krankheit. Deutliche Unterschiede zwischen den Ländern gab es nur beim Anteil der Suchtkranken sowie bei der Altersdemenz.

Die wichtigsten Ergebnisse der Studie:

  • Am häufigsten sind Angststörungen, die 14 Prozent der Bevölkerung betreffen.
  • Unter Schlaflosigkeit oder einer schweren Depression leiden jeweils rund sieben Prozent der Menschden.
  • Mehr als vier Prozent sind alkohol- oder drogenabhängig.
  • Fünf Prozent der unter 17-Jährigen sind vom Aufmerksamkeits-Defizitsyndrom ADHS und 30 Prozent der über 85-Jährigen von einer Demenz betroffen.

"Psychische Krankheiten sind die größte Herausforderung für das europäische Gesundheitssystem im 21. Jahrhundert", meinen die Forscher. Ein schwacher Trost: Seit einer ebenfalls von Wittchen geleiteten Untersuchung aus dem Jahr 2005 ist der Prozentsatz der psychisch Erkrankten in den untersuchten Ländern nicht gestiegen.

Schlechte Versorgung

Obwohl psychische Leiden häufig auftreten, ist die medizinische Versorgung alles andere als optimal. Nur ein Drittel der Betroffenen werde behandelt, berichten die Forscher - und auch das oft nur nach jahrelanger Wartezeit bis zur richtigen Therapie.

Die Studie identifiziert einige Ursachen für die schlechte Versorgung der Erkrankten. Ein Faktor sei die Kluft zwischen Forschung und Praxis, konstatieren die Forscher. Das habe zur Folge, dass Ärzte in Diagnostik und Therapie oft noch veraltete Methoden einsetzen. Hier sei es unter anderem wichtig, die Behandlungsressourcen für psychische Störungen zu optimieren, sagt Wittchen.

Eine weitere Ursache für die Missstände sei die gesellschaftliche und politische Tendenz, psychische und neurologische Krankheiten zu marginalisieren und zu stigmatisieren, schreiben die Forscher. Dazu komme das weit verbreitete Unwissen in der Bevölkerung und in der Gesundheitspolitik bezüglich der verschiedenen Formen psychischer Störungen, ihrer Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten.

Die aktuelle Studie kann nicht direkt mit der von 2005 verglichen werden - bei der neueren Untersuchung haben die Forscher mehr Länder und ein breiteres Spektrum von Diagnosen eingeschlossen. Allerdings schätzen die Experten schon vor sechs Jahren, dass die volkswirtschaftlichen Kosten der psychischen und neurologischen Leiden bei 386 Milliarden Euro pro Jahr liegen. Für die aktuellen Daten sind die Berechnungen noch nicht abgeschlossen - doch laut Wittchen sind die Kosten um einiges höher als 2005.

Die Forscher betonen, wie wichtig es sei, seelische Störungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. "Da psychischen Krankheiten oft früh im Leben einsetzen, haben sie einen beträchtlichen schädlichen Einfluss in späteren Lebensjahren", so Wittchen. David Nutt vom Imperial College London, der nicht an der Studie beteiligt war, bestätigt das. Frühe Therapien könnten die Entwicklung der Krankheiten aufhalten - "so dass die Menschen nicht zwangsläufig arbeitsunfähig werden".

wbr/Reuters/dpa