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Medizin Ärzte-Initiative gegen heillose Rücken-OPs

In Deutschland werden jedes Jahr Zehntausende Menschen am Rücken operiert, obwohl der Eingriff unnötig ist - der Klinik aber viel Geld einbringt. Wirbelsäulen-Spezialisten wollen das Treiben jetzt beenden: Ein Zertifikat soll qualifizierte Ärzte kennzeichnen.
Wirbelsäule: Zehntausende Rücken-Operationen pro Jahr in Deutschland unnötig

Wirbelsäule: Zehntausende Rücken-Operationen pro Jahr in Deutschland unnötig

Foto: Corbis

Dass sie lieber einen Bogen um den OP-Saal gemacht hätten, merken viele Menschen mit Rückenschmerzen erst, wenn es zu spät ist. Ärzte machen jedes Jahr 160.000 Operationen an den Bandscheiben in Deutschland - doch mindestens 40 Prozent davon gelten als überflüssig.

Die Übertherapie am Rücken hat jetzt offenbar ein Ausmaß erreicht, dass sich in der etablierten Ärzteschaft selbst Widerstand dagegen formiert. Angesichts der ständig steigenden OP-Zahlen und Kosten will die Deutsche Wirbelsäulengesellschaft (DWG) mit einer Initiative für mehr Qualität bei Rückenoperationen sorgen. Von 2012 an wird die DWG ein neuartiges Zertifikat zum Wirbelsäulenchirurgen anbieten: Ärzte können es erwerben, indem sie Kurse belegen, in denen sie die Kunst der Wirbelsäulenchirurgie erlernen sollen.

"Das Ziel ist, dass wir die Qualität der Behandlungsmaßnahmen verbessern", sagt DWG-Präsident Christof Hopf, 56, Leitender Arzt des Zentrums für Wirbelsäulenchirurgie des Lubinus Clinicums in Kiel. Dazu gehöre auch die sorgfältige Prüfung, ob beispielsweise ein Bandscheibenschaden überhaupt operiert werden müsse oder auch konservativ behandelt werden könne.

Heilversprechungen und fragwürdige Methoden

Eine so umfangreiche Weiterbildung wie das DWG-Zertifikat gibt es bisher nicht. Egal, ob Orthopäde, Unfallchirurg oder Neurochirurg - heute könne "sich jeder Facharzt ein Schild machen, auf dem Wirbelsäulenchirurg steht, und anfangen zu operieren", sagt Hopf. Kritische Mediziner bemängeln seit längerem, dass sich gerade in der Rückenmedizin Ärzte tummeln, die im Internet mit Heilversprechen um Patienten buhlen und wissenschaftlich fragwürdige Methoden anbieten. "Die Branche muss darauf achten, nicht den Vorwurf zu bekommen, Patienten erhielten unqualifizierte Behandlungsmaßnahmen", sagt Hopf. "Mit unserer Initiative möchten wir helfen, das Problem zu lösen."

Ein wesentlicher Kritikpunkt ist, dass Ärzte Menschen mit Rückenbeschwerden operieren, obwohl es dafür gar keine medizinischen Gründe gibt. So ist die Zahl der Bandscheibenoperationen in deutschen Kliniken im Zeitraum von 2004 bis 2009 um 43 Prozent gestiegen. Das geht aus Daten des Instituts für das Entgeltsystem im Krankenhaus (Inek) in Siegburg hervor. Dramatisch gesteigert hat sich auch die Zahl von sogenannten minimalinvasiven Verfahren, die gelegentlich auch unter dem Phantasiebegriff "Mikrotherapie" vermarktet werden. Die Zahl von Injektionen in die Nähe des Rückenmarks ist laut Inek zwischen 2004 und 2009 um 46 Prozent gestiegen.

"Es ist leider nicht immer auszuschließen", sagt Hopf, "dass die Spielräume bei der Indikationsstellung ausgereizt werden." Für Ärzte und Krankenhausbetreiber sind die Eingriffe äußerst gewinnbringend. Für das Entfernen einer Bandscheibe entstehen laut Barmer GEK Kosten in Höhe von 5320 Euro - eine sogenannte Fusionsoperation mit Zugang von vorn und von hinten ergibt sogar 10.310 Euro. Und selbst für eine Injektion mit einigen Tagen Krankenhausaufenthalt kann eine Klinik mehr als 2000 Euro in Rechnung stellen.

Lukrative Praxis für Kliniken und niedergelassene Ärzte

Auch niedergelassene Orthopäden tragen zu dem Boom bei. Sie haben zwar gar keine eigenen OP-Säle, jedoch umgehen sie dieses Problem einfach: Sie mieten sich in Krankenhäusern Betten, OP-Säle und operieren ihre Patienten dort - als "Konsiliarärzte". Die Rückendoktoren bekommen ihre Operationsleistung vergütet, den Rest des Honorars behält das Krankenhaus.

Um die Zahl der unseriösen Eingriffe zu senken, will die DWG nun die freiwillige Zertifizierung für Orthopäden, Unfallchirurgen und Neurochirurgen ins Leben rufen. Neben der Frage nach der richtigen Indikation für eine Operation gehören auch chirurgische Techniken zum Programm.

"Wir bieten den Kollegen an, operative Therapien unter der Anleitung von erfahrenen Ärzten an Leichenpräparaten zu erlernen", sagt Hopf. Das Entscheidende sei, dass die Kurse interdisziplinär aufgezogen seien: Ein Orthopäde etwa soll gezielt Techniken und Kenntnisse aus der Unfall- und Neurochirurgie lernen. "Schon allein diese interdisziplinäre Ausrichtung wird für eine erhebliche Steigerung der Qualität sorgen."

Die Initiative der DWG ist nicht die erste ihrer Art. So haben Mediziner erst kürzlich die Website "Vorsicht!Operation"  gegründet, auf der Patienten eine zweite Meinung einholen und so das Risiko eines überflüssigen Eingriffs verringern können. Das DWG-Zertifikat könnte Rückenpatienten schon bei der Suche nach einem Arzt helfen - denn heute haben sie kaum eine Möglichkeit, seriöse Mediziner von Scharlatanen zu unterschieden.