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Studie zur Volksgesundheit Finanzkrise macht die Griechen krank

Die Wirtschaftskrise macht den Griechen zu schaffen - und das nicht nur finanziell. Laut einer neuen Studie zerfällt das staatliche Gesundheitswesen, die Zahl von Suiziden und Krankheitsfällen steigt rapide. Schon warnen Mediziner vor einer "griechischen Tragödie".
Von Cinthia Briseño
Patienten vor einem griechischen Krankenhaus: Die Wirtschaftskrise hinterlässt Spuren

Patienten vor einem griechischen Krankenhaus: Die Wirtschaftskrise hinterlässt Spuren

Foto: ? John Kolesidis / Reuters/ REUTERS

Arbeitslosigkeit, bankrotte Unternehmen, Angst vor finanziellen Nöten: Eine Wirtschaftskrise kann schwer auf der Psyche der Bevölkerung lasten. In Japan etwa stieg die Zahl der Suizide während der Wirtschaftskrise der neunziger Jahre drastisch an. 1999 nahmen sich mehr als 30.000 Menschen das Leben - es waren fast ausschließlich Männer aus der arbeitenden Bevölkerungsschicht.

Der Effekt war auch anderswo zu beobachten. Britische Soziologen analysierten 2009 alle Wirtschaftskrisen, die zwischen 1970 und 2007 in 26 EU-Ländern aufgetreten waren. Das Ergebnis: Eine Steigerung der Arbeitslosigkeit erhöht die Suizid- und Mordraten. "Es besteht ein geradezu lineares Verhältnis zwischen der nationalen Suizidrate und dem Bruttoinlandsprodukt", sagte auch der US-Soziologe Harvey Brenner 2009 dem "New York Magazine".

Wie sehr eine Wirtschaftskrise der Bevölkerung zusetzen kann, haben jetzt Forscher um den Gesundheitssoziologen David Stuckler von der University of Cambridge anhand der Finanzkrise in Griechenland analysiert. Im Medizinjournal "The Lancet"  stellen sie ihre Ergebnisse vor:

  • Die Zahl der Einweisungen in Krankenhäuser ist 2010 im Vergleich zu 2009 um 24 Prozent gestiegen.
  • Die Wahrscheinlichkeit, dass Patienten ihren Gesundheitsstatus als "schlecht" oder "sehr schlecht" betrachten, ist 2009 im Vergleich zu 2007 um 14 Prozent gestiegen.
  • Dagegen ist die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen einen Arzt aufsuchen, im selben Zeitraum um 15 Prozent gesunken.
  • Die Zahl der Selbsttötungen ist 2009 im Vergleich zu 2007 um 17 Prozent gestiegen. In einem nicht offiziellen Dokument des Parlaments, so berichten die Studienautoren, sei sogar von einem Anstieg um 25 Prozent die Rede. Noch dramatischer ist die Zahl der Suizide dieses Jahr gestiegen: Nach Angaben des Gesundheitsministeriums haben sich in der ersten Jahreshälfte 2011 etwa 40 Prozent mehr Menschen umgebracht als im ersten Halbjahr 2010.

Die Analyse der Soziologen basiert auf den Daten der Europäischen Statistikbehörde sowie der griechischen Regierung. Dass 2009 weniger Kranke einen Arzt aufgesucht haben, liege nicht daran, dass die Griechen sich keine Arztbesuche mehr leisten könnten, so die Forscher. Die Leistungen des staatlichen Gesundheitsdienstes sind für jeden Versicherten kostenlos. Auswirken würden sich vielmehr die Kürzungen im Gesundheitswesen um bis zu 40 Prozent. Weniger Personal in den Krankenhäusern, längere Wartezeiten und eine schlechtere Medikamentenversorgung seien ausschlaggebend dafür, dass immer weniger Kranke sich in die Hände von Medizinern begeben würden.

Direkter Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise

Die Wissenschaftler haben zudem weitere Alarmsignale in der griechischen Bevölkerung ausgemacht, "von denen wir wissen, dass sie direkt mit der Krise zusammenhängen", sagt der Soziologe Alexander Kentikelenis aus Cambridge, der Erstautor der Studie. So habe sich etwa die Zahl von Gewaltverbrechen, Tötungsdelikten und Diebstählen zwischen 2007 und 2009 nahezu verdoppelt.

"Ich wäre allerdings vorsichtig, einen Anstieg der Gewalttaten direkt als Auswirkung der Finanzkrise zu betrachten", sagt Regina Jutz vom Gesis - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Mannheim. Die Forscher hätten lediglich den vorhandenen Anstieg zwischen den beiden Beobachtungsjahren beschrieben. Das sei noch kein nachgewiesener kausaler Zusammenhang.

Auch die steigende Zahl der HIV-Ansteckungen bringen Stuckler und seine Kollegen mit der Finanzkrise in Verbindung: Die Zahl der Neuinfektionen, so lautet das Fazit einer vorangegangenen Studie, werde bis Ende 2011 im Vergleich zum Vorjahr von 605 auf 922 steigen, was einem Plus von 52 Prozent entspräche. Die Hälfte der Neuinfektionen tritt bei Heroinabhängigen auf. Allein die Daten der ersten sieben Monate aus 2011 zeigen, dass sich die Zahl der Neuinfektionen innerhalb dieser Gruppe im Vergleich zu 2010 verzehnfacht hat. Auch die Zahl der Heroinabhängigen ist nach Angaben der griechischen Suchtbehörden 2009 um 20 Prozent gestiegen.

Dieser Effekt gehe ebenfalls auf das Konto der Finanzkrise, so die Autoren: Allein das Budget für Streetworker-Programme sei 2009 und 2010 um etwa ein Drittel gekürzt worden. Eine Befragung von 275 Drogenabhängigen in Athen hat zudem gezeigt, dass 85 Prozent von ihnen die Hilfe solcher Programme nicht in Anspruch nehmen.

Gesundheitswesen kann Patienten nicht mehr ausreichend versorgen

Zugleich minimiere die Finanzkrise die Unterstützung für Heroinabhängige, erklärt Kentikelenis. Gelegenheitsjobs, Almosen oder Taschengeld von Eltern würden seltener. "Viele flüchten sich deshalb in die Prostitution, um die Kosten für ihren Drogenkonsum zu decken", so der Forscher. Manche Drogenabhängige sind nach Angaben der griechischen Gesundheitsbehörde sogar so verzweifelt, dass sie sich absichtlich infizieren, um die finanzielle Unterstützung vom Staat für HIV-Kranke von 700 Euro monatlich abzukassieren.

Zwar sei die Verbreitung des Aids-Erregers HIV in Griechenland im europäischen Vergleich eher auf niedrigem Niveau, sagt die Mannheimer Soziologin Jutz. Umso alarmierender sei die Tatsache, dass die Zahl jener Griechen, die sogenannte "Street Clinics" aufsuchen, seit Beginn der Finanzkrise um knapp 30 Prozent nach oben geschnellt ist. Gemeint sind damit medizinische Einrichtungen, die von Nichtregierungsorganisationen betrieben werden und ursprünglich für Immigranten gedacht sind. "Die Daten der Studie lassen darauf schließen, dass das staatliche Gesundheitswesen in Griechenland seine Patienten nicht mehr ausreichend versorgen kann", sagt Jutz.

Die Ergebnisse der Studie sind nicht die ersten ihrer Art: Stuckler und seine Kollegen hatten bereits die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die Bevölkerung untersucht, die 2007/2008 ihren Anfang nahm. Das Resultat publizierten sie vor wenigen Monaten ebenfalls in "The Lancet" . Die Suizidwelle als Folge einer großen Krise war demnach in Griechenland am stärksten ausgeprägt. "Griechenland bietet ein besorgniserregendes Bild", schreiben die Forscher. Deshalb müsse man jetzt besonderes Augenmerk auf die Entwicklung des griechischen Gesundheitswesen legen. In der Summe werten die Soziologen die Anzeichen als "Vorboten einer griechischen Tragödie".

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