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Bewegung auf Rezept Alpenüberquerung statt Bettruhe

Immer mehr Studien weisen körperliche Aktivität als Heilmittel aus, das gegen unterschiedlichste Erkrankungen hilft. Nun beginnen Ärzte damit, dieses Zaubermittel wie ein Medikament zu verordnen.

Es war eine außergewöhnliche Gruppe, die da vorigen Sommer zu Fuß über die Alpen gezogen ist. Die sieben Männer hatten gerade erst eine Behandlung wegen Prostatakrebs hinter sich - und wurden genau deshalb von ihren Ärzten auf die anstrengende Wanderung geschickt.

Ziel der Tour war es, den Einfluss der Bewegung auf die seelische und körperliche Verfassung der Patienten zu untersuchen. Aus diesem Grund haben drei Studenten der Deutschen Sporthochschule Köln sie begleitet.

Die Alpenüberquerung steht für einen Wandel, der sich durch die Heilkunde zieht. Nicht nur Onkologen, sondern auch Psychiater, Orthopäden und Kardiologen gehen dazu über, körperliche Ertüchtigung wie eine bewährte Medizin zu verordnen - Heilen mit Bewegung.

"Der gesundheitliche Nutzen der Bewegung ist so groß, dass sie vermutlich die wichtigste Behandlung ist, die man selber durchführen kann", haben britische Ärzte kurz vor Weihnachten in einem Editorial des "British Medical Journal" konstatiert. Tatsächlich hat die Wissenschaft nie bessere Argumente geliefert, regelmäßige Ertüchtigung zum guten Vorsatz fürs Neue Jahr zu erwählen: Studie um Studie weist die Bewegung als verträgliches Heilmittel gegen Krebs, Depressionen, Arthrose, Rückenschmerzen, Stress, Osteoporose und Verkalkung der Herz-Kranz-Gefäße aus.

Doch während sich der Segen der körperlichen Aktivität immer klarer abzeichnet, rätselten Mediziner bisher, wie man träge Menschen dazu bringen kann, die Heilkraft der Bewegung dauerhaft für sich zu nutzen.

Nun haben Ärzte in Neuseeland einen bisher kaum praktizierten Weg beschritten. Sie beließen es nicht bei den üblichen Ratschlägen und Ermahnungen - vielmehr verschrieben sie die Bewegung mit einem Rezept.

Teilnehmer an der Studie waren mehr als tausend Frauen im Alter von 40 bis 74 Jahren. Sie alle blieben unter der allgemeinen Empfehlung, sich an fünf Tagen der Wochen 30 Minuten lang zu bewegen, und sie galten als inaktiv. Die Hälfte dieser Probandinnen wurde wie gehabt von ihrem Hausarzt beraten. Die anderen dagegen bekamen ein schriftliches Rezept für Bewegung präsentiert; überdies fragte eine Krankenschwester bei ihnen in den folgenden neun Monaten telefonisch nach, ob sie die Verschreibung denn auch befolgten.

Tatsächlich waren das Rezept und das Nachfassen dazu angetan, zu einem bewegteren Leben zu verhelfen. Zwei Jahre nach Beginn der Studie stieg der Anteil der körperlich regen Frauen in der Kontrollgruppe von elf Prozent auf 33 Prozent - in der Rezeptgruppe war der Effekt deutlich jedoch größer: Die Zahl der aktiven Frauen stieg von zehn Prozent auf 39 Prozent.

So wertvoll solche Bewegungsrezepte auch sind, noch stellen zu wenige Ärzte in Deutschland welche aus. Zum einen wird das Verschreiben körperlicher Aktivität im Abrechnungssystem kaum gefördert und nicht angemessen honoriert. Zum anderen ist vielen Medizinern der therapeutische Wert der Bewegung noch kaum bewusst. Es sei "verwunderlich", klagt etwa der Arzt Rüdiger Reer von der Universität Hamburg, "wie wenig verbreitet das Wissen über diese Zusammenhänge auch in Medizinerkreisen ist".

Wie schwer es ist, gegen das Prinzip Müßiggang anzukämpfen, zeigt das Beispiel der Onkologie besonders deutlich. Menschen mit Krebsdiagnose, so wurde es Generationen von Medizinstudenten eingetrichtert, benötigten Schonung und Bettruhe, um deren Erkrankungen nicht noch weiter zu verschlimmern.

Als der Kölner Pionier Klaus Schüle vor zwei Jahrzehnten die erste Sportkrebsgruppe der Welt gründete, reagierten die meisten Mediziner entsetzt. "Können Sie garantierten, dass Sport keine Metastasen lostreten kann?", fragte ihn ein Radiologe. Schüle entgegnete: "Können Sie garantieren, dass Ihre Strahlen nicht neue Tumoren wachsen lassen?" Doch allmählich und dank einer Fülle von Studien erkennen immer mehr Ärzte in der Bewegung ein verträgliches Mittel gegen Krebs. Dieses wirkt nicht nur vorbeugend, sondern verbessert nachweislich auch die Heilungschancen, wie es im November auf dem Symposium "Sport und Krebs" in München hieß.

Die Alpenüberquerung der Männer mit Prostatakrebs ist ebenfalls erfolgreich verlaufen. Fünf Wochen nach dem Start auf dem Marienplatz in München sind die sieben Patienten abgekämpft, aber glücklich auf dem Markusplatz in Venedig angekommen. Während die wissenschaftlichen Daten der Wanderung derzeit noch ausgewertet werden, plant der federführende Kölner Sportmediziner Freerk Baumann für dieses Jahr bereits das nächste Projekt: eine Schneeschuhwanderung mit Krebspatienten durch Lappland.