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Gesundheit Geduld ist gefragt

So lange sitzen Patienten in deutschen Wartezimmern

Businesspeople sitting in waiting room Businesspeople sitting in waiting room
Um hier sitzen zu dürfen, warten Privatversicherte im Durchschnitt sechs Tage. Gesetzlich Versicherte kommen nach 20 Tagen zum Zuge
Quelle: picture-alliance / Creasource/picture alliance/Creasource
Privat versichern, um schneller dranzukommen? Das lohnt kaum: Privatversicherte warten nur etwas kürzer. Wer zum Augen- oder HNO-Arzt möchte, muss viel Geduld mitbringen.

Wer das KU64 in Berlin betritt, hat das Gefühl, am Strand zu sein. Die dünenförmig geschwungenen Wände erstrahlen in sonnigem Gelb. Es gibt Entspannungsliegen, einen Kamin, Getränke, iPads, Zeitschriften und eine Sonnenterrasse. Langweilig wird hier niemandem – auch nicht den Kindern. Sie können sich bei Tischfußball, an der Playstation, an der Kletterwand oder einem Bad aus Bällen austoben.

Wer glaubt, die Rede sei von einer Wellnessoase, hat sich getäuscht. Das KU 64 ist eine Zahnarztpraxis mit Wohlfühl-Wartezimmer. Hier ist der Patient König. Nervöse Erwachsene bekommen sogar ein Gläschen Sekt.

So kuschelig sind Wartezimmer nur sehr selten. In der Regel müssen Patienten sich mit unbequemen Stühlen und abgegriffenen Zeitschriften begnügen. Da werden ein paar Minuten zu gefühlten Stunden. Doch wie lange warten wir wirklich? Was macht das Warten angenehmer? Und wie groß ist die Ansteckungsgefahr währenddessen?

Tatsächlich warten wir Deutsche im Durchschnitt 27 Minuten beim Arzt. Privatversicherte werden leicht bevorzugt und im Mittel nach 21 Minuten aufgerufen. Das ergab eine im Auftrag des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen durchgeführte Befragung.

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Rund 6000 Bundesbürger ab 14 Jahren wurden zum Thema „Arztbesuch und Wartezeiten“ interviewt. Zahnärzte schnitten bei der Befragung am besten ab. Nur 13 Minuten mussten gesetzlich Versicherte hier warten. Mit 23 Minuten sind auch die Wartezeiten beim Gynäkologen relativ kurz.

Der Kinderarzt liegt mit 29 Minuten im Mittelfeld. Auf längere Wartezeiten von jeweils 35 Minuten müssen sich Patienten hingegen bei Hals-Nasen-Ohren-Ärzten und Orthopäden einstellen. Schlusslicht sind die Augenärzte. Geschlagene 37 Minuten verharrten die Patienten im Wartezimmer.

Genau wie das Team vom KU64 hat sich auch die Allgemeinmedizinerin Agnes Harnisch etwas einfallen lassen, um ihren Patienten die Wartezeit zu versüßen. Im Wartezimmer der Berliner Praxis hängen seit einem guten halben Jahr zwei Flachbildfernseher. Das Unternehmen TV-Wartezimmer hat in ganz Deutschland bereits 5100 solcher Bildschirme installiert.

Auf den Bildschirmen von Agnes Harnisch laufen kurze Filme zu Prophylaxe, Therapie- und Behandlungsmethoden, Tier- und Reisedokumentationen und stündlich aktuelle Nachrichten. Auch ihr Praxisteam wird vorgestellt. Zwischendurch wird jedoch häufig Werbung für TV-Wartezimmer eingeblendet.

Eine Patientin im Wartezimmer findet das Programm insgesamt „sehr interessant“ und besser, als wenn man einfach nur wartet. Schade fände sie nur, dass die Beiträge alle ohne Ton wären. Ohne diesen Kompromiss geht es allerdings nicht. Einige Patienten würden die Geräusche stören.

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Als in einem animierten Film gezeigt wird, wie Kinesio-Tapes funktionieren, holt die Frau ihr Handy aus der Tasche und notiert sich den Namen. Mit dem heilenden Klebeband kann man Verletzungen kurieren, Muskeln lockern und Entzündungen hemmen. Für ihren Freund wäre das interessant, sagt sie. Während sich die Wartezeit gefühlt verkürzt, lernt der Besucher noch etwas dabei.

Davon profitiert auch Agnes Harnisch. Die Patienten kennen sich mit den Leistungen, die von ihr angeboten werden, aus – noch bevor sie das Zimmer der Ärztin betreten haben. „Dann muss ich mir hier drinnen nicht immer den Mund so fusselig reden“, sagt Harnisch. Einen Kritikpunkt gibt es jedoch: Wer länger als eine Stunde warten muss, bekommt das gleiche Programm wieder von vorne vorgespielt.

Die Unterhaltung im Wartezimmer kommt gut an. Der graue Alltag in deutschen Arztpraxen sieht jedoch meist anders aus. Für viele Patienten ist das Wartezimmer ein Ort des Schreckens.

Statt das Bett zu hüten, haben sie sich hierher gequält. Manchen steht eine unangenehme Behandlung bevor. Und dann vergeht die Zeit auch noch elend schleppend. Niemand unterhält sich. Es herrscht Totenstille. Vor Langeweile tut plötzlich alles viel mehr weh. Wer nicht vor sich hin starren möchte, blättert in alten Zeitschriften. Um einen herum sitzen haufenweise schniefende Patienten oder solche mit Fieber und anderen ansteckenden Krankheiten. Da ist es kein Wunder, dass viele Menschen Angst haben, sich im Wartezimmer anzustecken.

Doch macht das Wartezimmer wirklich krank? Nein, sagt Winfried Kern von der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie. Theoretisch sei es möglich, sich anzustecken, „praktisch ist es sehr unwahrscheinlich, es sei denn, man wird direkt angehustet“. Diese Gefahr bestände aber genauso im Bus, in der Schule, überall dort, wo Menschenmassen sind. „Der Tag hat 24 Stunden. Sie haben theoretisch 24 Stunden Zeit, sich anzustecken. Wie viel Zeit verbringen Sie davon in einem Wartezimmer?“, fragt Kern.

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