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Psychologie Phobien

Jeder siebte Europäer leidet unter krankhafter Angst

Unter den psychischen Störungen nehmen Angststörungen eine Spitzenposition ein Unter den psychischen Störungen nehmen Angststörungen eine Spitzenposition ein
Unter den psychischen Störungen nehmen Angststörungen eine Spitzenposition ein
Quelle: pa
Es ist eine Bilanz des Schreckens: Psychische Störungen tragen in der EU mit mehr als 26 Prozent zur Krankheitsstatistik bei – mehr als Herzleiden oder Krebs.

Gut 38 Prozent aller Europäer leiden pro Jahr an einer klinisch bedeutsamen psychischen Störung. Das sind rund 165 Millionen Menschen. Diese erschreckenden Zahlen nennt Professor Hans-Ulrich Wittchen vom Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie der TU Dresden, der die bislang größte europaweite Studie zu psychischen und neurologischen Erkrankungen koordiniert hat.

Hunderte Forscher in allen 27 EU-Staaten, überdies in der Schweiz, Norwegen und Island, haben für diese Studie drei Jahre lang gearbeitet – Datensätze durchforstet, Umfragen ausgewertet, Belastungsindexe errechnet.

Jetzt werden die Ergebnisse im Fachblatt „European Neuropsychopharmacology“ veröffentlicht. Es ist die weltweit erste Studie, die staatenübergreifend so umfassend analysiert, wie häufig psychische Erkrankungen bei Kindern und Erwachsenen sind.

Ganz vorn liegen die Angststörungen, an denen in Europa etwa 14 Prozent der Gesamtbevölkerung erkranken. Dazu gehören spezifische Phobien wie die vor Spinnen ebenso wie die Agoraphobie – die Angst vor öffentlichen Plätzen.

Auch die soziale Phobie als Angst vor sozialen Situationen, die generalisierte Angststörung, bei der sich Angst verselbstständigt hat und das gesamte Alltagsleben begleitet, sowie Panikstörungen, bei denen Angstanfälle wiederholt ohne erkennbaren Grund auftreten, wurden erfasst.

Platz zwei teilen sich die bekannteste aller psychischen Erkrankungen, die Depression, mit rund sieben Prozent, und mit fast gleicher Prozentzahl die Schlafstörungen.

Danach kommen die somatoformen Erkrankungen, umgangssprachlich auch „psychosomatisch“ genannt, mit rund sechs Prozent, sowie Alkohol- und Drogenabhängigkeit mit mehr als vier Prozent Betroffener in der Gesamtbevölkerung. Die Häufigkeit und Rangreihe der Krankheiten waren in allen EU-Staaten weitgehend gleich.

Neben den psychischen Störungen gibt es eine große Zahl neurologischer Erkrankungen wie Parkinson, Multiple Sklerose, Schlaganfall und Alzheimer.

Da diese Leiden oft von einer psychischen Erkrankung begleitet werden – laut Wittchen ist etwa jeder zweite Parkinson- und Alzheimer-Patient depressiv – lässt sich deren zusätzlicher prozentualer Anteil nur schwer bestimmen. Die Gesamtzahl der von einer psychischen Erkrankung Betroffenen dürfte deshalb noch weit höher liegen als bei den in der Studie genannten 38 Prozent.

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Bei einer ersten EU-Studie aus dem Jahre 2005 hatten Wittchen und seine Kollegen 27 Prozent psychisch erkrankter Menschen pro Jahr ermittelt. Den deutlichen Anstieg um elf Prozentpunkte relativiert Wittchen indes. In der Neuauflage der Studie wurden nämlich weitere 14 Kerndiagnosen berücksichtigt.

Außerdem wurde die Altersspanne erweitert. Erst in der neuen Studie sind Kinder und Rentner durchgängig erfasst. Gleichwohl offenbart die neue Studie einen erschreckenden Ist-Zustand.

Dabei haben die Psychologen bei der Auswertung eine psychische Erkrankung nur dann als gegeben registriert, wenn eine Person die vollen Diagnosekriterien erfüllte. Jemand, der nur vorübergehend schlecht schläft oder gelegentlich in bestimmten Situationen ängstlich reagiert, findet sich in der Statistik nicht wieder.

„Psychische Störungen sind kein seltenes Schicksal“, resümieren die Autoren der Studie, „das Gehirn als komplexestes Organ des Körpers ist genauso häufig wie der Rest des Körpers von Störungen und Erkrankungen betroffen.“

Zusätzlich berechneten die Forscher die gesellschaftliche Gesamtbelastung durch psychische Krankheiten. Dabei fanden sie heraus, dass psychische Störungen in der EU für mehr als 26 Prozent der gesamten Krankheitsbelastung verantwortlich sind – das ist mehr als jede andere Krankheitsgruppe, etwa Krebs oder Herzerkrankungen.

Gemessen wird diese gesellschaftliche Belastung inzwischen international mit dem Daly-Indikator der Weltgesundheitsorganisation WHO. Daly steht für „disability adjusted life years“.

Dabei wird errechnet, um wie viele Jahre sich die aktuell bestmögliche Lebenserwartung durch eine Krankheit verkürzt, und wie viele Lebensjahre ein Mensch zusätzlich durch eine langfristige Behinderung im Alltag ausfällt. Das Belastungsmaß ist also die korrigierte Lebenserwartung nach Abzug der Jahre durch vorzeitigen Tod und Behinderung.

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Nach dieser Rechnung verursacht eine milde, aber chronische Angststörung die gleiche gesellschaftliche Belastung wie eine Brustkrebserkrankung. Bei beiden verkürzt sich die erwartete Lebensdauer um vier Jahre. Eine Angststörung führt durch den Rückzug zu deutlich weniger körperlicher Aktivität und in die soziale Isolation – und beides ist nachweislich Gift für die Gesundheit.

Am meisten belasten jedoch Wittchen und seinen Kollegen zufolge die Depression und Alkoholabhängigkeit. Sie machen sieben und dreieinhalb Prozent der gesundheitlichen Gesamtbelastung Europas aus.

Neben der Demenz war die Depression auch die einzige psychische Erkrankung, bei der sich eine deutliche Zunahme in der Häufigkeit über die vergangenen Jahre zeigen ließ. Das liegt zum einen an der gestiegenen Lebenserwartung und der Tatsache, dass eine Depression sich oft gemeinsam mit Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson einstellt, die erst im höheren Alter auftreten.

Zum anderen aber konnten die Forscher auch zeigen, dass als zweite Gruppe Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren für den größten Anstieg in der Häufigkeit der Depression verantwortlich sind.

Noch vor 25 Jahren sei es sehr selten gewesen, bei Untersuchungen in dieser Altersgruppe eine echte Depression zu finden, sagt Wittchen. „Aber heute ist das der größte Anteil. Wir sehen inzwischen bei Jungen und Mädchen auch unter 18 Jahren ungefähr fünfmal so häufig eine voll ausgeprägte Depression wie früher“, so der Psychologe.

Und das ist fatal. Wer bereits mit 18 Jahren zum ersten Mal eine depressive Episode hat, trägt ein deutlich erhöhtes Risiko, im Laufe seines Lebens chronisch depressiv zu werden oder wiederholte, längere, und immer schwerer werdende Episoden zu erleiden.

Doch woran liegt es, dass Jugendliche und Kinder so gravierend häufiger und früher eine behandlungsbedürftige Depression bekommen? „Die Hauptursache scheint schlicht die Unsicherheit der Lebensstrukturen zu sein“, erklärt Wittchen.

Genetische und neurobiologische Faktoren könne man recht gut ausschließen. Dennoch seien junge Menschen heute deutlich anfälliger für Depressionen – insbesondere infolge einer anderen psychischen Erkrankung wie etwa einer Angststörung.

Besonders heikel ist angesichts der Studienergebnisse, dass die Behandlungsraten psychischer Erkrankungen äußerst niedrig sind. In Deutschland sind nur rund vier Prozent der Betroffenen in psychotherapeutischer Behandlung – und das ist schon doppelt so viel wie in vielen anderen europäischen Ländern.

Je nach EU-Land haben zwischen 24 und 56 Prozent der Betroffenen Kontakt zu einem Arzt. Im europäischen Schnitt werden jedoch weniger als ein Drittel aller Krankheitsfälle behandelt.

Dabei sind die Therapiemöglichkeiten bei einer früh richtig erkannten psychischen Störung gut. Schon zwölf knapp einstündige kognitive Therapiesitzungen bei einer akuten Depression mit und sogar ohne Medikamente führe dazu, dass nach sechs Wochen die Patienten nahezu depressionsfrei sind und auch über Jahre hinweg ein niedrigeres Risiko haben, wieder zu erkranken, erklärt Wittchen.

Doch auch in Deutschland muss jemand, der mit einer akuten Depression Hilfe sucht, unter ungünstigen Umständen bis zu anderthalb Jahre warten, bevor die Behandlung überhaupt losgehen kann.

Das liegt an den Gutachterverfahren und auch daran, dass viele Psychotherapeuten andere Spezialisierungen haben, als gerade gefragt sind. Lange Wartelisten sind die Folge.

„Und bis dahin ist natürlich der Arbeitsplatz futsch und die Beziehung im Eimer, und dann fängt man an, eine chronische Depression zu behandeln“, sagt Wittchen.

Er hatte eigentlich gehofft, dass die Behandlungsraten im Vergleich zur Erhebung von 2005 besser geworden seien. Denn es gab verschiedene Programme, die die EU-Kommission als Konsequenz der ersten Studie initiiert hatte. Doch der Schwerpunkt lag dabei meist auf der verbesserten Diagnose, vor allem bei Hausärzten.

„Jetzt wird die Depression zwar häufiger diagnostiziert, aber nicht häufiger besser behandelt“, sagt er. Ärzte verschreiben inzwischen häufiger Antidepressiva, doch danach ist der Patient oft sich selbst überlassen. Die Zahlen zeigen, dass die Medikamente häufig nicht konsequent genommen oder vorzeitig abgesetzt werden.

Wittchen wundert das nicht. „Nach ein paar Tagen bekommt der Patient Nebenwirkungen und die typischen vorübergehenden Symptomverschlimmerungen, und dann ist die Sache schnell wieder beendet.“ Da es Wochen dauern kann bis Effekte spürbar sind und diese ohne weitergehende Therapie auch nur vorübergehend sind, geben Patienten ohne psychotherapeutische Unterstützung schnell auf.

Im Oktober wird Wittchen im Europaparlament eine genaue Kostenaufstellung psychischer Erkrankungen vorlegen. „Unser Gesundheitssystem ist mit seinen Kosten zu mehr als 70 Prozent von chronischen Erkrankungen gekennzeichnet“, so Wittchen, „da ist es oft günstiger, frühzeitig ein bisschen mehr Geld zu investieren.“

Denn viele psychische Erkrankungen verursachen ohne Behandlung massive Kosten und Belastungen, für die Betroffenen und für die Gesellschaft – oft ein Leben lang. Schon heute ist die Depression der häufigste Grund für eine frühzeitige Berentung, sagt Wittchen. Das müsste nicht sein.

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