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Psychologie Phänomen Self-Hacking

Messen von Körperfunktionen kann süchtig machen

Acht Stunden Schlaf, 245 Kilokalorien zum Frühstück und einen durchschnittlichen Blutdruck von 123 zu 78. Anhänger des „Quantified Self“ suchen in Körperdaten Selbsterkenntnis Acht Stunden Schlaf, 245 Kilokalorien zum Frühstück und einen durchschnittlichen Blutdruck von 123 zu 78. Anhänger des „Quantified Self“ suchen in Körperdaten Selbsterkenntnis
Acht Stunden Schlaf, 245 Kilokalorien zum Frühstück und einen durchschnittlichen Blutdruck von 123 zu 78. Anhänger des „Quantified Self“ suchen in Körperdaten Selbsterkenntnis
Quelle: Welt Online Infografik/Welt Online Infografik
Ob Blutdruck, Kalorienzufuhr oder Schlafdauer: Keine Köperfunktion ist vor den Anhängern des "Quantified Self" sicher. Ärzte warnen vor einer neuen Störung.

In den USA formiert sich eine neue Bewegung, die das Messen und Dokumentieren aller Körperfunktionen auf die Spitze treibt. „Self-Hacking“ nennt sich die komplette, digitale Selbsterfassung der eigenen physiologischen Daten.

Die Anhänger der „Quantified Self“-Gruppen messen, veröffentlichen und vergleichen bis zu 40 Daten täglich. Ist das die Emanzipation des Patienten von der Medizin oder nur eine extreme Form von Hypochondrie und Narzissmus?

Mit der Messung nur einer einzigen Körperfunktion halten sich die Selbstvermesser nicht auf. Sie messen, veröffentlichen und vergleichen tagtäglich Dutzende von persönlichen Daten. „Self-Hacking“ nennt sich dieser Trend der obsessiven Erfassung eigener medizinischer Daten.

Alexandra Carmichael, Global Director und oberste Datensammlerin der Bewegung, misst täglich 40 verschiedene Daten, etwa Dauer und Qualität des Schlafes, das morgendliche Körpergewicht, Kalorienanzahl und Essenszeiten, psychische Stimmung, Menstruationszyklus, Sex, Fitnessübungen, Medikation, Schmerzen, Wetter, unvorhergesehene Ereignisse oder Gefühle – alles kategorisiert von 1 bis 6. Warum sie das tut?

„Es scheint andere Menschen zu interessieren“, sagt Carmichael. Entweder sind die, die sich für ihre Daten interessieren, einfach nur neugierig oder sie wollen ihre eigenen Daten vergleichen.

Selbstermächtigung und Selbstoptimierung – das sind die zentralen Motive, um Körperfunktionen und Stimmungen so lückenlos erfassen zu wollen. „Self knowledge through numbers“, Selbsterkenntnis mithilfe von Zahlen ist das Credo.

Die mithilfe von Smartphone-Apps, Messgeräten aus der Sportmedizin und Online-Plattformen erfassten Körperfunktionsdaten sollen eine neue Grundlage für ein perfektes Verhältnis zum eigenen Körper schaffen.

Hinzu kommt ein Misstrauen gegenüber Ärzten und klinischen Studien, das immer mehr Menschen dazu bringt, die Überwachung des eigenen Funktionierens selbst zu übernehmen. Die Self-Hacker vertrauen nicht auf das Wissen von Medizinern, sondern sind selbst Forschungsobjekt und Forscher in einer Person.

Ihre Wurzeln hat die Selbstvermessung in der Nerd- und Technikszene Kaliforniens. Dort gründeten die Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly einen losen Zusammenschluss aus Fitnessfreaks, Technikfans und chronisch Kranken, die an der Selbstbeobachtung und dem Austausch ihrer Daten mit anderen interessiert waren.

Hochburg ist San Francisco

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Hochburg der „Quantified Self“-Gruppen ist mit rund 1800 Mitgliedern San Francisco, gefolgt von New York mit über 800 Mitgliedern. Sie veranstalten Kongresse, wo sie ihre gesammelten Daten vorstellen, vergleichen und diskutieren, um sich über neueste technische Spielereien informieren zu können.

Der erste europäische Kongress fand Ende November in Amsterdam statt. In kleinen Workshops und Vorträgen diskutierten die Self-Hacker den Sinn und Nutzen ihrer Datensammelwut. „Es sind letztlich medizinische Studien mit einem sehr wichtigen Teilnehmer: Ihnen selbst“, erklärt Gary Wolf.

In Deutschland existieren zwei Gruppen: In München haben sich zwölf, in Berlin neun Selbstvermesser zusammen gefunden. Auch der 25-jährige Bioinformatik-Student Christian Kleineidam aus Berlin gehört dazu.

Er beginnt jeden Tag mit einem 180 Fragen umfassenden Intelligenztest, um dann den Grad der Mundfeuchtigkeit, seinen Taillenumfang und sein Gewicht zu dokumentieren und drei Fotos seines Körpers in Unterhosen anzufertigen.

Neben der reinen Lust am Datensammeln fasziniert auch Kleineidam die Tatsache, dass man sich so vom Wissen der Schulmedizin unabhängig mache: „Wir sind nicht mehr auf die Autorität von wissenschaftlichen Studien angewiesen, die uns sagen wollen, was uns guttut und was nicht“, sagt er. Dass dies nicht gerade streng wissenschaftlich ist, interessiert ihn nicht. Entscheidend sei, „wie etwas bei mir wirkt“.

Erst der Vergleich bringt neue Erkenntnisse

Die umfangreichen persönlichen Daten werden allerdings erst interessant, wenn man sie in Zusammenhang mit den Daten anderer bringt. Dafür gibt es immer mehr Plattformen und soziale Netzwerke im Internet wie Daytum, CureTogether oder Mybasis.

Zahlreiche Sensoren, Tracker und Datenanalysewerkzeuge wie RescueTime oder Digital Mirror helfen beim Messen, hinzu kommen Anwendungen aus dem Bereich des Spitzensports wie die Sportmonitoren Fitbit und Bodymedia mit ihren Beschleunigungssensoren oder Selbst-Tracking-Apps wie Runtastic.

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Seit diese Messgeräte und Sensoren auch für normale Menschen, und nicht nur für Sportmediziner und Spitzensportler, erschwinglich sind, entwickelt sich hier ein neuer Markt.

Immer öfter tauchen Vertreter von Unternehmen wie Microsoft, Philips, Intel, Google und Fujitsu auf den Konferenzen des Quantified-Self auf, unterstützen die Veranstaltungen finanziell und stellen ihre neusten technischen Spielzeuge aus.

Ist Self-Hacking wirklich die Emanzipation des Patienten vom medizinischen Fachpersonal oder einfach nur eine neue Form von Hypochondrie und Narzissmus? Ab wann wird die verschärfte Selbstbeobachtung pathologisch?

„Grundsätzlich kann solch ein Verhalten als krankhaft bezeichnet werden, wenn andere soziale Aktivitäten darunter leiden“, sagt Bernhard Osen, Chefarzt der Schön Kliniken in Bad Bramstedt und Facharzt für Psychotherapie und psychosomatische Störungen.

Illusion der absoluten Kontrolle

„Sicherlich gibt es heute einen allgemeinen Trend zur Optimierung, Individualisierung, zum Streben nach Perfektion, doch in übertriebener Form gehört dieses Verhalten in eine Reihe mit Körper-Wahrnehmungsstörungen, Hypochondrie und Essstörungen.“

Zudem erzeuge das Datensammeln die Illusion der absoluten Kontrolle sämtlicher Körperfunktionen. „Denn wenn ich etwas quantifizieren kann, fühle ich mich sicherer“, sagt Osen. Die Fähigkeit der gesunden Selbstwahrnehmung ginge dabei aber verloren.

Außerdem sieht Osen die Gefahr, dass die vom Messen Besessenen selbst konstruierten Pseudokorrelationen zu viel Beachtung schenkten und Zusammenhänge sähen, wo gar keine seien.

Manche Quantified-Self-Erkenntnisse sind banal bis lächerlich. So diskutierten Vertreter der Bewegung auf ihren Meetings darüber, ob man besser schlafe, wenn man vor dem Schlafengehen acht Minuten auf einem Bein stünde oder eine Brille mit orangefarbenen Gläsern tragen würde.

Andere Teilnehmer waren davon überzeugt, dass der Konsum von Butter die Hirnaktivität erhöhe. Self-Hacker Tim Chang stellte fest, dass sein Herz jeden Tag, wenn er mit dem Auto zur Arbeit fuhr, um die gleiche Uhrzeit zu rasen begann, und zwar immer, wenn er auf einen sehr belebten Highway einbog.

Er musste nur eine weniger befahrene Strecke zur Arbeit wählen, und schon war sein Herzrasen verschwunden. Darauf hätte er auch ohne obsessive Selbstbeobachtung kommen können.

Und wie lange will die oberste Self-Hackerin, Alexandra Carmichael, ihre 40 persönlichen Messwerte noch sammeln?

„Solange es mir nicht den Spaß am Leben verdirbt“, erklärt sie. „Außerdem sollte man so viele Daten wie möglich sammeln. Wer weiß, wofür man sie später gebrauchen kann.“

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