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Ausland OECD-Studie

Tadel für medizinische Überversorgung der Griechen

Kreta - Apotheke in Agios Nikolaos Kreta - Apotheke in Agios Nikolaos
Apotheke auf Kreta: Eine OECD-Studie präsentiert überraschende Zahlen zum Gesundheitswesen im verschuldeten Krisenstaat
Quelle: picture alliance / ZB/Waltraud Grubitzsch
Protzige Klinikbauten, Ärzte mit Götterstatus: Experten kritisieren das griechische Gesundheitssystem. Nirgendwo gibt es so viele Computertomografie- und Magnetresonanz-Aufnahmen.

Europas Gesundheitssysteme kranken (unter anderem) an zu viel und unnötiger Diagnostik und Therapien. Diese bedrohen zunehmend die Finanzierbarkeit notwendiger medizinischer Leistungen. Ein österreichischer Medizinprofessor liest seinen Kollegen die Leviten: "Falsche finanzielle Anreize, medizinische Überbehandlung und ein Ausreizen der Abrechnungssysteme bringt die Gesundheitssysteme in Europa an den Rand der Unfinanzierbarkeit", sagt Professor Günther Leiner.

Vor "massiven Fehlentwicklungen" in Zeiten knapper öffentlicher Kassen warnt der Präsident des European Health Forum Gastein (EHFG), einer jährlichen gesundheitspolitischen Konferenz im österreichischen Kurort Bad Gastein. Prototypisch sei der unnötige Einsatz teurer diagnostischer Verfahren. Ein typisches Beispiel seien Computertomografien (CT) und Magnetresonanztomografien (MRT, früher: Kernspintomografie).

Unterschiede nicht nur aus medizinischen Gründen

Innerhalb von Europa klafft die Anzahl der MRT- oder CT-Untersuchungen pro tausend Einwohner weit auseinander. Und "die Unterschiede lassen sich sicher nicht mit medizinischen Gründen oder dem schlechteren Gesundheitsstatus der Bevölkerung erklären", kritisiert Leiner.

Als Land mit einer besonders überbordenden bildgebenden Diagnostik fällt ausgerechnet das von der staatlichen Insolvenz bedrohte Griechenland auf, wie die Statistik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt. Demnach nimmt das Land bei CT- und MRT-Scans den OECD-Spitzenplatz ein, was auf eine besonders unkritische Anwendung schließen lässt.

Wobei es bei Computertomogrammen nicht nur um unnötige Gesundheitsausgaben geht, sondern auch um die Nebenwirkungen der Strahlung. Deren Krebsrisiko muss gut mit dem Nutzen der Diagnostik abgewogen werden. So belastet ein CT des Bauchraums den Organismus rund 150 Mal so stark mit Strahlung wie die Höhenstrahlung eines Hin- und Rückflugs Frankfurt–New York.

Laut jüngsten Daten der OECD wurden in Griechenland im Jahr 2010 jährlich 98 Magnetresonanzuntersuchungen pro 1000 Einwohner durchgeführt – mehr sind es OECD-weit nirgendwo. Auf den Plätzen zwei und drei liegen mit 91 beziehungsweise 75 MRT-Diagnosen die Vereinigten Staaten und Island.

Keine verlässlichen Zahlen aus Deutschland

Am unteren Ende rangiert innerhalb der OECD Chile (1,7) oder – eher vergleichbar mit Griechenland – die Slowakei mit 30. Für Deutschland liegen, wenig verständlich, keine vergleichbaren Zahlen vor. Bekannt ist hierzulande nur, dass in Kliniken gut 17 MR-Tomografien pro 1000 Einwohner erstellt werden. Die Untersuchungen bei niedergelassenen Radiologen weisen die OECD-Zahlen nicht aus.

Ähnlich weit ist die Spanne in der OECD bei Computertomografien: Hier reichen die Zahlen von 320 CT pro 1000 Einwohnern – Spitzenreiter erneut Griechenland – oder 228 in den USA und 182 in Belgien bis 82 in der Slowakei oder 66 in den Niederlanden. Auch bei CTs liefert die OECD-Statistik für Deutschland keine verlässlichen Zahlen, weil die Daten für die Arztpraxen fehlen.

Sicher ist, die Zahlen klaffen ohne triftigen Grund weit auseinander. "Derartige Unterschiede lassen sich ganz gewiss nicht mit medizinischen Gründen erklären", sagt Leiner. "Dass sie mehr untersucht werden, macht die Griechen nicht gesünder, aber sicher ihren Staatshaushalt noch ein weiteres Stück ärmer."

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Mark Pearson, Leitender Direktor der Gesundheitsstatistiken bei der OECD, skizzierte beim EHFG-Workshop "Finanzierung der Gesundheitssysteme" die Ungleichgewichte in den 31 OECD-Staaten. Demnach sind die öffentlichen Ausgaben für Gesundheit von 1998 bis 2008 um einen Prozentpunkt auf im Durchschnitt 8,3 Prozent des Bruttosozialprodukts gestiegen.

"Zu viele Ärzte, aber zu wenige Krankenpfleger"

Der Blick in die OECD-Statistiken offenbart unter anderem die Fehlentwicklungen im griechischen Gesundheitssystem. "In Griechenland ist in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten sehr viel falsch gelaufen", sagt Pearson im Gespräch mit der "Welt". "Es gibt viel zu viele Ärzte, aber zu wenige Krankenpfleger."

Die Griechen leisteten sich generell eine sehr teure Infrastruktur, hätten aber dennoch ein nur wenig leistungsfähiges Gesundheitssystem. Im "Club Méditerranée" mit Portugal, Italien, Spanien stelle Griechenland, erläutert Pearson, den krassesten Fall von Misswirtschaft dar. Nirgendwo leistet sich eine Volkswirtschaft mehr Ärzte als in Griechenland: sechs auf 1000 Einwohner.

Eklatanter Mangel beim Pflegepersonal

In weitem Abstand folgt auf Platz zwei mit einem Wert von 4,6 Österreich. In der Bundesrepublik kommen 3,6 Ärzte auf 1000 Einwohner – das ist knapp über EU-Durchschnitt, der liegt bei 3,3. Griechenland glänzt ebenso mit einer hohen Dichte an Fachärzten, vernachlässigt aber die allgemeinmedizinische Versorgung und rangiert hierbei unter Europas Schlusslichtern.

Auch beim Pflegepersonal zeigt sich ein eklatanter Mangel: 3,3 Krankenschwestern pro 1000 Einwohner. Nur in Bulgarien, der Türkei und anderen OECD-Schwellenländern gibt es noch schlechtere Werte als in Griechenland. Deutschland rangiert mit einer Relation von elf pro 1000 über dem EU-Durchschnitt, der bei 9,8 im Jahr 2010 lag.

Griechische Ärzte werden wie Götter behandelt

"Griechenland wartet mit protzigen Klinikbauten und Fehlstrukturen auf und unternimmt keinen ausreichenden Versuch, preiswerte und gute medizinische Leistungen zu erbringen", kritisiert Pearson. Dies zeigt sich auch bei der Verweildauer in Krankenhäusern beispielsweise nach Herzinfarkten. Griechische Infarktpatienten verweilen zehn Tage nach der Operation noch im Krankenhaus. Der EU-Schnitt liegt bei 7,9. In fast allen Mittelmeerländern sei die Verweildauer in Kliniken und Krankenhäusern zu lange und leide unter ineffizienten Behandlungen.

In Griechenland fehle es zudem an einem klaren Berichtswesen, um die Missstände aufdecken und Fehlentwicklungen korrigieren zu können. "In Griechenland werden die überdurchschnittlich gut verdienenden Ärzte wie Götter behandelt", umschreibt Pearson die Missstände der Gesundheitsszene im Land der Göttersagen.

Einsatz teurer Geräte regulieren

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Auch der für Gesundheitspolitik zuständige Berater bei der Weltbank in Washington, Armin Fidler, beanstandet das völlige Fehlen einer Qualitätskontrolle in dem Land und fordert ein "Health Technology Assessment" (HTA). "Es bedarf der Einrichtung einer HTA-Agentur in Griechenland, um den Wildwuchs zurückzufahren und den Einsatz teurer Geräte wie MRTs oder CTs zu regulieren."

EHFG-Präsident Leiner geißelt eine zunehmende "Ökonomisierung der Medizin". Eine niederländische Fachzeitschrift habe jüngst in einer Umfrage erhoben, dass sich vier von zehn Fachärzten von der Krankenhausdirektion unter Druck gesetzt fühlen, Untersuchungen zu veranlassen, die eigentlich nicht nötig wären.

Da werde Medizin reduziert auf ihre wirtschaftliche Dimension und eine Anwendung von Technik. Im Zuge der Ökonomisierung der gesamten Medizin hänge in einem wettbewerbsorientierten System die Existenz moderner Kliniken nicht nur davon ab, wie gut man Menschen helfe, sondern zuerst und zumindest genauso davon, wie wirtschaftlich die Klinik geführt werde. Griechenland sei hierfür ein besonderes Beispiel.

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