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Beim Bergsteigen kann sich ein Mann noch beweisen

Haus bauen, Baum pflanzen, Sohn zeugen: Irgendwie fehlt dieser Trilogie des Mannseins noch etwas. Es ist das Bergsteigen – auf einen möglichst hohen Gipfel.

Einmal im Leben muss es nämlich ein Gipfel sein, ein echter, ein Dreitausender. Das Haus ist gebaut, der Baum gepflanzt, das erste Kind kommt im November zur Welt. Kurz zuvor hat es unser Autor Raimund Haser noch gewagt, sich einen Traum zu erfüllen. Ausgesucht hat er sich den Piz Buin im Montafon (Vorarlberg, Österreich, 3312 Meter) und eine Tour, die niemand vergisst, der einmal das Gipfelkreuz umarmt hat.

Die Belohnung

Apfelsaftschorle. Na bravo. Fast zwei Stunden waren wir unterwegs, haben uns hinaufgeschleppt zur Wiesbadener Hütte, haben den Silvretta-Stausee im Stechschritt passiert und die geräumige Gaststube des DAV-Hauses zu Füßen des Piz Buin erst zum Einbruch der Dunkelheit erreicht. Und die Belohnung? Apfelsaftschorle. Trinken alle hier. Wenige Stunden vor dem großen Aufstieg auf den mit 3312 Metern höchsten Berg Vorarlbergs traut sich kaum jemand, seinen Lastern nachzugeben. Rauchen? Draußen. Bier? Wenn’s denn sein muss. Es muss sein.

Kopfschüttelnde Blicke vom Nachbartisch. "Kein Wunder, wenn die morgen..." Genau. Wenn die morgen zusammenbrechen beim Gang über den Gletscher. Sagt’s ruhig. Hoffen wir mal, dass sie unrecht haben. Aber auf 2443 schläft man sowieso schlecht – mit Bier oder ohne. Und dann lieber mit.

Die Nacht verläuft unruhig, Zweifel kommen auf. Was soll das? Was willst du dir beweisen? Es ging immer nur ums Draußensein, um die frische Luft, die schönen, einsamen Wege durchs Gebirge, um den Duft der Almwiesen, die goldgelben Ahornbäume und um die zünftige Brotzeit nach einem anstrengenden Tag. Und jetzt? Der Piz Buin.

Gott bewahre – das ist nicht der Mont Blanc und erst recht nicht das Matterhorn. Aber die "Ochsenspitze", wie der Piz Buin vom Rätoromanischen her ins Deutsche übersetzt heißt, ist hoch, steil, anstrengend und auch ein bisschen gefährlich. Die Angst zu versagen – ist es das, worum es geht? Oder um all die hässlichen Gedanken, die einen auf 2443 Metern Seehöhe vom Schlafen abhalten? Irgendwann ist die Müdigkeit stärker – und gewinnt.

Wir haben Glück. Als der Wecker um 5.45 Uhr klingelt, geht eine sternenklare Nacht zu Ende. Laut Wetterbericht wird ein wolkenloser Tag folgen. Die ersten Wanderer sind bereits mit Stirnlampen unterwegs zum Gipfel, als in der Gaststube Kaffee und Schwarzbrot gereicht werden. Gustl ist ein wunderbarer Name für einen Bergführer. Und er passt zu dem Mann, dem wir für die kommenden zehn Stunden unser Leben anvertrauen.

Die Gletscher

Seit 35 Jahren geht der Montafoner als Bergführer auf den Piz Buin, "wie oft ich da oben war, weiß ich nicht. Ich habe leider nicht mitgezählt", sagt er. Aber er kann sich noch gut erinnern, dass die beiden Gletscher hier oben – Ochsental und Vermunt – einmal größer waren als heute. Viel größer.

"Als diese Hütte gebaut wurde", doziert er in seinem hochmontafoner Dialekt, "hat der Wirt das Fleisch noch im Gletschereis gekühlt. Heute ist nur noch ein Bruchteil dieser Eisgiganten übrig." "Und 2050 wird gar nichts mehr davon übrig sein", ergänzt Thomas aus München, der uns zum Gipfel begleiten wird und aufgeweckt seinen Hüttenkaffee genießt. "Glaziologen haben einen aussterbenden Beruf. Liegt am Klimawandel." Geografen wie Thomas sind wie hohe Berge. Sie machen einem Angst.

Die Gruppe, der ich mich angeschlossen habe, ist unfair besetzt. Thomas ist jung, mutig und wiegt nichts, worin ihm Kathi sehr ähnlich ist. Lediglich Dieter, der erst seit kurzem von Wien ins Montafon, "das Land der echten Berge", gezogen ist, könnte noch meiner sportlichen Gewichtsklasse entsprechen. Nach wenigen Metern ist klar: tut er nicht. Na bravo.

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Um 7.02 geht’s los. Seil, Haken und was die Bergvagabunden aus dem berühmten Lied sonst noch alles so mitschleppen, hat Gustl besorgt. Mit Stöcken bewaffnet und in Klettergurte gezwängt ziehen wir vorbei an unaufgeräumten Gneis-Feldern, die der Vermuntgletscher hinterlassen hat. Die Gipfel baden bereits in der Sonne, als wir eine Stunde später den Ochsentalgletscher erreichen, über den es in einer langgezogenen Linkskurve um den Gletscherbruch herum hinauf zum Plateau des Eismassivs geht. "Wir sind gut in der Zeit", lobt Gustl, als er uns anseilt. Wir nicken, weil uns zum Reden die Kraft fehlt. Kein Wunder bei dem Tempo.

Kurze Zeit später kommt die Sonne über den Berg und verwandelt das mit Neuschnee bedeckte Eismeer in eine geradezu kitschig glitzernde Märchenlandschaft. Es riecht nach nichts mehr, außer nach Weite. Mit jedem Höhenmeter wird es schwerer, einen Fuß nach dem anderen den Trampelpfad entlang neben die kleinen Gletscherspalten zu setzen. Aber mit jedem Schritt wird auch die Sehnsucht nach dem Gipfel größer.

Die Motivation

"Was treibt einen an?" Der Satz schießt in den Kopf und bleibt dort, bis wir die Buinlücke erreichen, von der aus nur noch ein kleiner Felshügel zwischen uns und dem mächtigen Gipfelkreuz steht. "Was treibt einen an, Berge zu besteigen und dafür Anstrengungen und Gefahren in Kauf zu nehmen?"

Vielleicht ist es die Erschöpfung in den Oberschenkeln, der erste Riss in der ausgetrockneten Lippe, vielleicht sind es die nassen Schuhe oder das schwere Atmen. Vielleicht ist es aber auch die Gewissheit, der Natur ein Schnippchen schlagen zu können. Wenigstens einmal im Leben. Mit jedem Schritt wird dieser schelmische Gedanke größer und wächst sich aus zu einem Triumph – über sich und den Berg und natürlich über die Welt, die sich rund 3000 Meter weiter unten um die großen und kleinen Nichtigkeiten des Alltags dreht. Kurzum: Ein gutes Gefühl.

Mitten in Gedanken versunken ist er dann urplötzlich da – der Moment, weshalb wir hier sind. Irgendwie haben wir uns angeseilt durch den von vielen gefürchteten Kamin nach oben gezwängt, haben die letzten 200 Höhenmeter von der Buinlücke aus hinauf zum Gipfelkreuz überwunden – und halten schweigend das Gipfelkreuz fest, als würde es sonst umfallen.

Eine Hand an der Kamera, die andere um die Kameraden gelegt, genießen wir den 360-Grad-Blick von der Verwall-Gruppe über den Ortler und die Bernina-Gruppe bis hinunter zur Bielerhöhe, wo wir tags zuvor gestartet sind. Seit der Erstbesteigung von Joseph Anton Specht und Johann Jakob Weilenmann am 14. Juli 1865 haben hier zigtausende "Berg Heil" gerufen. Und doch ist es nicht dasselbe, wenn man es selbst tut. Also: "Berg Heil!"

Die "Kameraden"

Der Abstieg ist ein kurzes Abenteuer durch die Eisfelder des Ochsentalgletschers, der sich – als ahne er sein von Thomas prophezeites Schicksal – todesmutig über die Felsen hinab ins Tal stürzt. Wir stürzen hinterher: Wie die Lemminge springen wir angeseilt über Gletscherspalten und Eisbrücken. Der angestrengte Blick widmet sich nur ab und an der übermächtigen Schönheit jahrtausendealter Eisgiganten – zu gefährlich ist das Terrain.

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Urmel aus dem Eis, Max Kruses Hauptdarsteller aus den gleichnamigen Büchern, muss hier oben geschlüpft sein, ganz bestimmt. "Nicht reden, konzentrieren", mahnt Gustl. Recht hat er, denn mit einem Mal versinkt das rechte Bein in einer Lücke im ewigen Eis. Glück gehabt, Schnauze halten.

Abgeseilt, ausgemergelt, abenteuergeplagt und voller Stolz erreichen wir wenige Stunden später die Wiesbadener Hütte. Es ist schon spät am Nachmittag, andere Gäste sind heraufgekommen, mit Kleidern, wie wir Nicht-Alpinisten sie sonst immer tragen: Pseudo-Bergklamotten für Pseudo-Berge. Aber heute ist alles anders. Heute gehören wir dazu.

Die anderen Kameraden – so heißen die jetzt – vom Gipfel sind schon da, haben die gleiche Route wie beim Aufstieg gewählt, erzählen sich Geschichten und lachen uns aus, weil wir so lange gebraucht haben. "Das hast du toll gemacht", sagt Gustl und nimmt uns den Klettergurt ab. Er weiß, wenn niemand die Wahrheit hören will.

"Musst du dringend wiederkommen nächste Jahr", ruft uns die slowakische Starbedienung auf der Hütte hinterher, als wir noch am selben Tag hinunter zum Silvretta-Stausee aufbrechen. Sie lächelt und trägt ein Tablett mit Apfelsaftschorle-Gläsern an einen Tisch junger Männer, die soeben angekommen sind. Berg Heil, Jungs. Berg Heil.

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