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Warum sich viele Menschen auf Facebook entblößen

Die stille Sehnsucht nach einer Reaktion: Ein Verhaltensökonom hat herausgefunden, warum vielen Menschen im Netz nichts peinlich ist.

Das größte Rätsel ist der Mensch sich doch immer noch selbst. Warum zum Beispiel leisten sich Menschen im Internet einen Fauxpas nach dem anderen, für den sie sich im wirklichen Leben in Grund und Boden schämen würden?

Es sind ja nicht nur Jugendliche, die sich in sozialen Netzwerken mitunter hemmungslos entblößen. In Wort und Bild lassen dort Nutzer und Nutzerinnen aller Alters- und Bildungsschichten nicht nur im übertragenen Sinne des Wortes die Hosen herunter – mit oft bitteren Folgen für öffentliches Ansehen und Karriere.

Immer länger wird die Liste von Politikern und anderen Prominenten, die selbstvergessen in die Netzwelt ab- und wie gerupfte Hühner in der Realwelt wieder auftauchen. Hätte etwa der Kieler C DU-Spitzenkandidat Christian von Boetticher auch ohne Facebook seine Liebschaft zu einer Minderjährigen gepflegt? Was hat den US-Spitzenpolitiker Anthony Weiner zu seinen mit Unterhosenfotos garnierten Lolita-Flirts bei Facebook animiert?

Eine Antwort auf solche Fragen hat jetzt der amerikanische Verhaltensökonom Jonah Berger gefunden. „Therapie Facebook? Warum teilen Menschen Online-Inhalte, die ihnen nahegehen?“ ist der Titel seiner Studie. Ergebnis: Körperchemie und Gefühle pur, nicht aber die Vernunft, steuern die Menschen bei ihrem Kommunikationsverhalten in sozialen Netzwerken. Das hat Berger, der als Professor für Marketing an der Universität von Pennsylvania (USA) lehrt, zusammen mit Eva Buechel (Universität von Miami) herausgefunden.

„Es geht dabei weniger um rational bestimmte Kommunikationsabsicht, sondern um gefühlsmäßige Selbstversicherung“, schreibt Berger. Menschen ohne gefestigte Persönlichkeit neigten verstärkt dazu, unbedacht allzu persönliche Reaktionen ins Netz zu stellen. Die mehr oder weniger stille Sehnsucht nach einer Reaktion lasse sie mehr Emotionales von sich preisgeben, als das andere tun, stellt Berger fest.

Denn das Grundgesetz aller Kommunikation gelte auch im Netz: Je emotionaler die Botschaft, umso wahrscheinlicher eine Antwort darauf. „Wir vermuten, dass ein solches Verhalten auch eine therapeutische Funktion hat“, schreibt Berger. Emotional instabile Personen würden sich besser fühlen, wenn sie auf negative Gefühlserlebnisse Reaktionen aus dem Netz bekämen, schreibt Berger.

Ob Menschen eine Information im Netz miteinander austauschen, habe dabei oft weniger mit der Information selbst als mit der Situation zu tun, in der dieser Austausch geschieht. Mit originellen Tests nahm er eine Gruppe von Studenten unter die Lupe, um Gründe und Begleitumstände für Kommunikationsverhalten im Netz zu untersuchen. Angeregt durch den Fall Weiner, der sich nach einem Fitnesstraining so spontan wie offenherzig im Internet präsentiert hatte, schickte Berger seine Studenten aufs Laufband. Und danach direkt ins soziale Netzwerk – mit erstaunlichem Ergebnis.

Offenherziger nach Anstrengung

Nach körperlicher Anstrengung war die Wahrscheinlichkeit, dass die Probanden eigene Gefühlsregungen und andere private Informationen mit anderen teilen wollten, plötzlich dreimal höher. Welcher Zusammenhang zwischen körperlichen Erschöpfungszuständen und der Bereitschaft, Informationen zu tauschen, besteht, will Berger mit weiteren Untersuchungen klären.

Fest steht für den Forscher: „Die körperliche und seelische Situation eines Menschen ist ausschlaggebend für seine Mitteilungsbereitschaft.“ Je nach Gemütsverfassung und körperlichem Zustand verliert demnach der Internet-Nutzer durchaus die Kontrolle – und redet Unsinn im Netz.

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Kein Wunder, dass sich in vielen Ländern bereits die Polizei dafür interessiert, wer in sozialen Netzwerken so alles die Maske fallen lässt. Die New Yorker Polizei hat jetzt sogar eine eigene Einheit aufgestellt, die in sozialen Netzen nach Straftätern und Unruhestiftern sucht. Die Polizisten sollen bei Facebook und Twitter nach Spuren von Verbrechen suchen, weil sich die Täter dort oft ihrer Aktionen rühmen. Unliebsame Einblicke durch das Schlüsselloch der sozialen Netze fürchtet man aber nicht nur in der Unterwelt. Das ist auch der Hintergrund für die Verhaltensforschungen von Marketingprofessor Berger.

Viele Firmen schrecken immer noch vor Werbeauftritten in sozialen Netzwerken zurück, weil sie befürchten, die Kommunikation ihrer enthemmten Mitarbeiter nicht steuern zu können. Angst vor „Kontrollverlust“ über die eigene Unternehmenskommunikation und daraus folgender Beschädigung ihrer Marken ist ein oft genannter Hinderungsgrund für PR-Strategen, in sozialen Netzwerken aktiv zu werden.

Offenbar durchaus begründet ist die Befürchtung vieler Firmen, dass die eigenen Mitarbeiter auf Kosten des Unternehmens in aller Öffentlichkeit mit ungeschützten Äußerungen in sozialen Netzwerken sich und die Firma gleich mit um Kopf und Kragen posten. Und damit sind nicht nur allzu offenherzige Partyfotos von Betriebsfesten gemeint.

Eine wundersame Enthemmung scheint uns also bei unseren Reisen in den sozialen Netzwerken zu übermannen, vor allem wenn wir aus dem seelischen Gleichgewicht geraten sind. Aber vielleicht fehlt es uns nur an Übung im Umgang mit den neuen Medien.

Im Talkshow-Laberstrom der alten Medien macht sich kaum noch ein Prominenter mit Unbedachtheiten zum Gespött. Man weiß ja, was man tut im Scheinwerferlicht des Studios. Im Internet aber bleibt es bis auf Weiteres spannend – und eben auch immer wieder hochnotpeinlich. Dank Rückkanal und der Gewissheit, dass die seelisch aus dem Gleichgewicht Geratenen sicher nicht weniger werden.

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