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Wissenschaft Plötzlich steinalt

Age-Man-Anzug zwingt seinen Träger ins Greisenalter

Schlechtsichtig, schwerhörig, ungelenk, steif und schwach: Wer den Age-Man-Anzug überstreift, kann das Fürchten bekommen – denn man ist mit einem Schlag 80.

Die Gelenke sind steif, die Sinne wie betäubt. Lisa Seebald, eine 26-jährige Medizinstudentin, ist binnen weniger Minuten zum Greis geworden. Kommilitonen haben ihr dicke Bandagen um Knie, Rumpf und Armgelenke gelegt.

Nun steckt Seebald in einem bleischweren Anzug, ihr Lockenkopf ist unter einem Helm verschwunden, sie kann nur noch durch ein gelbes Sichtfenster blicken. Seebald sieht jetzt aus wie eine Raumfahrerin.

Es ist ihre Zeitreise in die Welt der Alten. „Ich fühle mich wie in Watte gepackt“, sagt sie. Da stört der Tunnelblick, die verminderte Hörfähigkeit. Ihr Körper, über den sie sich sonst keine Gedanken macht, gehorcht plötzlich nur noch zeitverzögert, er ist zur Last geworden.

Age-Man heißt der Anzug, mit dem Medizinstudierende lernen sollen, sich in ältere Patienten einzufühlen. Geriaterin Rahel Eckardt unterrichtet ein Dutzend Studierende an diesem Tag. Sie sind im 9.Semester, im Reformstudiengang an der Charité absolvieren sie ein mehrwöchiges Blockpraktikum am Evangelischen Geriatriezentrum Berlin.

Jeder soll einmal Greis sein an diesem Tag. Jeder soll verstehen, warum bei Älteren Bewegungen länger dauern, was es bedeutet, wenn die Muskelmasse schwindet, die Koordination nachlässt.

Als Eckardt Mitte der 90er-Jahre an der FU Berlin ihr Medizinstudium beendete, gab es das Fach Geriatrie noch gar nicht, inzwischen ist es ein Pflichtfach für angehende Ärzte. Trotzdem findet Eckardt, dass Altersmedizin noch immer viel zu kurz kommt. Denn schon jetzt sind 15 Prozent aller Klinikpatienten über 80, der demografische Wandel und der Fachkräftemangel bei Ärzten und Pflegern wird langfristig zu Engpässen führen.

Krankheiten wie Demenz beherrschen zunehmend den Klinikalltag. Verglichen mit dem Jahr 2000 soll sich die Anzahl der Demenzkranken bis 2040 um 70 Prozent, die der Pflegebedürftigen um 90 Prozent erhöhen. Besonders im Osten und auf dem Land, dort wo die Menschen immer älter werden, die Jungen aber fortziehen, wird es Probleme bei der Versorgung geben, sagt Eckardt.

Im Blockpraktikum lernen die Studierenden die Arbeit in der Geriatrie kennen. Sie machen Visite, nehmen Blut ab, begleiten betagte Patienten bei der Rehabilitation. Doch wer die angehenden Ärzte fragt, ob sie Altersmedizin interessant finden, erhält eher zögerliche Antworten. „Die meisten meiden die Fachrichtung, sie denken, dass ihr Berufsalltag nur noch aus Tod und Sterben besteht“, sagt eine Studentin, die an Eckardts Seminar teilnimmt.

Die Empathie für ältere Patienten zu stärken sei aber essenziell, sagt Eckardt. Im Klinikalltag bringen oft nicht alle Ärzte und Medizinstudierende ausreichend Geduld auf. Viele unterschätzen Hör- und Sehvermögen oder die Kraft betagter Patienten.

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„Senioren werden oft Schmerztropfen verschrieben, obwohl sie die Flaschen nicht mehr aufdrehen und keine Tropfen mehr selbst dosieren können“, sagt Eckardt. Da müsse der Arzt auf Tabletten umsteigen. Es hapere vor allem bei der sogenannten Compliance, der Therapietreue.

Denn Patienten über 70 verstehen oft nur die Hälfte von dem, was die Ärzte ihnen raten. Durch die Trübung der Sinne hören sie es schlichtweg nicht, viele können Beipackzettel nicht mehr lesen. „Es ist kein Wunder, wenn Fehler bei der Dosierung passieren.“

In voller Montur soll Lisa Seebald nun alltägliche Situationen meistern. Sie postiert sich vor der imaginären Supermarktkasse. 1,89 Euro soll sie aus dem Portemonnaie kramen. Es dauert einige Minuten, denn die weißen Handschuhe erschweren das Greifen. Das simuliert eingeschränkte Fingerfertigkeit und Sensibilitätsstörungen, denn im Alter lässt das Gefühl in den Fingerkuppen oft nach.

Der Studentin fällt ein Cent auf den Boden, was sie erst mitbekommt, als die Oberärztin sie auffordert, das Wechselgeld aufzuheben. In die Hocke zu gehen, ist aber kaum machbar. Langsam, wie in Zeitlupe, bückt Seebald sich nach vorn. Die Kommilitonen sehen ihr zu, einige belustigt, andere betroffen. An der Supermarktkasse wird wohl keiner der Seminarteilnehmer mehr meckern, wenn ältere Kunden etwas länger brauchen

Die Idee, einen Altersforschungsanzug zu entwickeln, kam Gundolf Meyer-Hentschel schon Mitte der 80er. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit den Bedürfnissen älterer Kunden und leitet mit seiner Frau ein Beratungs- und Forschungsinstitut in Saarbrücken. „Dinge, die Menschen noch nie erlebt haben, können nur durch Selbsterfahrung verstehbar werden“, predigte er früh. Ältere Menschen fühlten sich oft nicht angemessen behandelt, sie kommen an Regale nicht mehr heran, können Preisschilder nicht entziffern.

Zunächst verkaufte er den Age-Man-Anzug an die Wirtschaft, an Unternehmer aus der Automobil- oder Lebensmittelbranche, die die Bedürfnisse Älterer besser begreifen wollten. Immer öfter kommt der Altersforschungsanzug im Gesundheitsbereich zum Einsatz, in Pflegeeinrichtungen oder Kliniken. Da ist es erstaunlich, dass Unikliniken in Berlin und Köln erst jetzt solche Anzüge für die Lehre benutzen.

Nach Lisa Seebalds Greis-Erfahrung ist Kommilitone Conrad Staeck in den Age-Man-Anzug geschlüpft. Der gebürtige Brandenburger ist einer der wenigen, die nach dem Studium als Landarzt in der Heimat arbeiten wollen. Bei der Übung muss er an seine Oma denken, an ihre vorsichtigen Bewegungen, an ihre Angst vor einem Sturz. „Die Angst wird jetzt nachvollziehbar“, sagt Staeck.

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Student Staeck soll nun noch den Sehtest machen. Dozentin Eckardt hält ihm ein gelbes und ein blaues Hemd vor die Nase, er soll auswählen, welches ihm besser gefällt. „Ist das nicht alles grün“, fragt Staeck. Er blickt durch das gelbe Visier des Helms, es simuliert die veränderte Farbwahrnehmung im Alter, denn im Laufe des Lebens kommt es zu Linsentrübung.

Die Dozentin lacht: „Merkt euch eins“, sagt Eckardt: „Streitet euch nie mit älteren Patienten über Farben.“

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