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Mythos oder Medizin Wirkt Magnesium bei Muskelkrämpfen?

Zu dem Thema hatten einige Freunde, einige Lehrer und ich sehr lange und stressige Diskussionen. Deshalb würde ich gerne wissen: Helfen Magnesium beziehungsweise Magnesiumtabletten wirklich gegen Muskelkrämpfe? Fragt Cihan Rüzgar aus Bietigheim-Bissingen.
Maximal zusammengezogener Muskel: Krämpfe können durch Überlastung entstehen

Maximal zusammengezogener Muskel: Krämpfe können durch Überlastung entstehen

Foto: Corbis

Es ist das Viertelfinale der Fußballweltmeisterschaft 2006, Deutschlands Sommermärchen. Ein Spiel, das den kollektiven Herzschlag der Nation in die Höhe treibt, die Hände Tausender mit Schweiß benetzt. Argentinien führt eins zu null, doch die Klinsmann-Elf bäumt sich auf, sie rennt und rennt und rennt. In der 77. Minute springt Miroslav Klose in die Höhe, sein Kopf trifft den Ball. Eins zu eins.

Klose jubelt, und humpelt drei Minuten später vom Platz. Seine Muskeln in der Wade gehorchen ihm nicht mehr. Wenig später sinkt auch der Kapitän zu Boden, die Muskeln in seiner Wade haben sich zu einem harten Streifen verkrampft. Minutenlang muss er behandelt werden, am Ende trifft er trotzdem beim Elfmeterschießen. Deutschland ist im Halbfinale.

Was die beiden Spieler in diesen Momenten an Angst und Freude durchlebt haben, kann wohl kaum jemand richtig nachfühlen. Die Schmerzen aber, die sie zu Boden gezwungen haben, kennen die meisten Deutschen. Muskelkrämpfe zählen zu den Volksleiden. Neben Momenten der extremen Belastung treten sie häufig auch ohne eine erkennbare Ursache in Ruhephasen auf, seltener können Medikamente oder Krankheiten Ursache der Beschwerden sein.

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Weit verbreitet, kaum erforscht

Obwohl Muskelkrämpfe weit verbreitet sind, kann die Wissenschaft bis heute viele Fragen zu ihrer Entstehung und Behandlung nicht beantworten. Stattdessen existieren Mythen, Anekdoten und Ratschläge für den Umgang mit Muskelkrämpfen. Der bekannteste und am weitesten verbreitete ist der Magnesium-Tipp. Hätten die beiden Fußballer vor dem Spiel besser noch eine Tablette geschluckt?

Magnesium zählt zu den wichtigsten Mineralstoffen für den menschlichen Körper, es steckt unter anderem in Nüssen, Bananen, Milch, Vollkornprodukten und Gemüse wie Grünkohl. Im Körper übernimmt es als Elektrolyt, das elektrischen Strom leiten kann, eine wichtige Rolle bei der Steuerung der Kommunikation von Nerven und Muskeln. Wem es an Magnesium mangelt, der entwickelt Muskelkrämpfe. Es wäre also plausibel, dass Magnesium Krämpfen entgegenwirkt.

Tatsächlich rät sogar die medizinische Leitlinie  der Deutschen Gesellschaft für Neurologie dazu, Patienten bei Muskelkrämpfen Magnesium zu empfehlen. Grund ist allerdings nicht, dass die Wirkung des Magnesiums so gut nachgewiesen ist. Es liegt daran, dass nebenwirkungsarme Alternativen fehlen.

"Das muss man pragmatisch sehen", erklärt Rainer Lindemuth, der in Siegen in einer Gemeinschaftspraxis für Neurologie und Psychiatrie arbeitet und die Leitlinie federführend erstellt hat. "Es gibt nur wenige Behandlungsoptionen, Magnesium kostet nicht viel, und in der empfohlenen Dosierung ist es üblicherweise gut verträglich." Das Einzige, was bei Überdosierungen in der Regel droht, ist Durchfall. Vorsichtig müssen Patienten mit Nierenfunktionsstörung und mit Herzrhythmusstörungen sein.

Hype durch einen Artikel über eine Tennisspielerin von 1983

Auslöser des Magnesium-Hypes bei Muskelkrämpfen war vor allem ein Fachartikel aus dem Jahr 1983. Damals berichteten Forscher im Journal "Physiology of Sports Medicine" von einer Tennisspielerin, die beim intensiven Training im Freien immer Krämpfe bekam und unter Magnesiummangel litt. Mit Dosen von 500 Milligramm Magnesium pro Tag verschwanden ihre Krämpfe wieder. Seitdem untersuchten mehrere kleine Studien die Wirkung von Magnesium auf Muskelkrämpfe.

2012 trugen Forscher um Scott Garrison von der University of British Columbia die Ergebnisse der Untersuchungen zusammen. Ihr Ergebnis war ernüchternd : Bei älteren Menschen mit nächtlichen Krämpfen wirkte Magnesium kaum besser als ein Scheinmedikament. Bei Schwangeren, die ebenfalls häufiger von Krämpfen betroffen sind, kamen Studien zu widersprüchlichen Ergebnissen. Und zu Muskelkrämpfen bei Sportlern gab es keine aussagekräftigen Untersuchungen.

Andere Annahmen zu Krämpfen beim Sport hingegen entpuppten sich in Studien als Mythen. So ist immer wieder zu lesen, dass Krämpfe durch Schwitzen und einen Flüssigkeitsmangel des Körpers entstehen. Diese Hypothese konnten Studien widerlegen, schrieben Wissenschaftler um Martin Schwellnus von der University of Capetown 2008 in einem Fachartikel zu Muskelkrämpfen bei Athleten . Dasselbe gilt bei Sport für den Elektrolytspiegel im Blut. Belegt ist nur, dass Muskelkrämpfe besonders häufig auftreten, wenn Sportler wie die Fußballer im WM-Spiel an ihre Grenzen gehen und der Muskel ermüdet.

Bei Krämpfen, die durch den Flüssigkeitsmangel bei einer Dialyse entstehen, sieht es allerdings anders aus: Hier kann ein Ersatz des fehlenden Volumens mit Kochsalzlösungen schnell helfen. Die Beispiele zeigen, wie verschieden die Auslöser von Krämpfen sein können, und wie verschieden ihre Behandlung.

Irrwege und das Magnesium-Rätsel

Wahrscheinlich sind die Krämpfe die Folge einer misslungenen Kommunikation zwischen Nerv und Muskel. Die Muskelfasern ziehen sich extrem zusammen und verharren Sekunden bis Minuten in dieser Situation. Treffen kann es grundsätzlich jeden Muskel im Körper, Waden und Fuß sind - wahrscheinlich aufgrund der großen Belastung - prädestiniert. "Wenn der Muskel krampft, hilft als Sofortmaßnahme, ihn zu dehnen oder seinen Gegenspieler anzuspannen", sagt Lindemuth. Schmerzt etwa die Wade, muss der Fuß zum Körper angezogen werden.

Ansonsten sollte jeder Krampfgeplagte selbst ausprobieren, ob ihm Magnesium hilft. Es gibt zwar auch ein Mittel, das sicher gegen die Krämpfe wirkt, einen Extrakt des Chinarindenbaums. Dieser ist jedoch ein gutes Beispiel dafür, dass auch pflanzliche Mittel Nebenwirkungen haben können: Das Chininsulfat kann das Blut verändern und zu tödlichen Herz-Rhythmus-Störungen führen. Deshalb sollte Chinin nur unter ärztlicher Aufsicht eingenommen werden. Da ist es besser, Krämpfe als einen in der Regel gutartigen Defekt des Körpers zu akzeptieren - und einfach auf die Wirkung des Magnesiums zu hoffen. Bei häufigen Muskelkrämpfen sollte der Hausarzt befragt werden.

Fazit: Ob Magnesium bei Krämpfen hilft, ist fraglich. Das Mineral hat allerdings in normalen Dosierungen kaum Nebenwirkungen und kann deshalb ohne große Bedenken ausprobiert werden. Ansonsten gilt, bei Krämpfen zu dehnen und zu warten, bis sie wieder vorbei sind.