Zum Inhalt springen
Fotostrecke

Metacritic und Co.: Mächtige Mittelwerte

Videospiel-Kritiken Die unheimliche Macht des Durchschnitts

Der Markt für Videospiele ist von einer gewaltigen Macht erobert worden: Anonyme Punktewertungen. Portale wie Metacritic errechnen aus den Kritikerzahlen Mittelwerte. So bestimmen sie den Erfolg eines Spiels, Händlerrabatte, die Bezahlung der Entwickler - und sogar Aktienkurse.

"Wie konnte es nur so weit kommen?" So wie der englische Videospielejournalist Patrick Garrett, der die Nachrichtenseite VG247 betreibt, fragen sich das inzwischen viele seiner Kollegen. Wie konnte es nur so weit kommen, dass Autoren angefeindet werden, wenn sie eine Wertung geben, die nach Meinung von Spielern nicht hoch genug ist? Wie konnte es dazu kommen, dass inzwischen nicht nur die Verkaufszahlen von Spielen, sondern auch die Einkünfte der Entwickler von diesen Zahlen abhängig gemacht werden?

Die erste Antwort auf diese Fragen heißt Metacritic.com.

Metacritic  ist eine Internetseite, seit 2001 online, die im Grunde nur eins macht: Sie sammelt Wertungen diverser Publikationen, Fachzeitschriften, Onlineportale und Blogs, rechnet diese in Zahlen zwischen 0 und 100 um und bildet daraus einen Mittelwert. Ein deutsches Pendant zu Metacritic heißt Critify, und auch international gibt es eine Reihe von Sites wie Gamerankings.com, die einen ähnlichen Service anbieten. Auch Sites wie das auf Filme spezialisierte Rottentomatoes.com nutzen ein ähnliches Modell. Doch Metacritic ist das Schwergewicht, buchstäblich das Maß der Dinge im Geschäft mit Punktwerten.

Stimmt der Durchschnitt nicht, will der Handel Rabatte

Das Ziel der Wertungsaggregatoren: Die Verbraucher können dort auf einen Blick sehen, wie Spiele, aber auch Filme, Fernsehserien und Musik bei den Kritikern ankommen. Das ist an sich nicht verwerflich. Problematisch scheint aber, dass viele Kunden offenbar nur noch auf diese Zahl schauen.

Und nicht nur sie, sondern auch die Hersteller von Spielen, Journalisten und Analysten. Eine Metacritic-Zahl kann den Börsenkurs von Unternehmen beeinflussen. Activision etwa musste das schon vor drei Jahren feststellen, als das lang erwartete Spiel "Spiderman 3" viele niedrige Wertungen bekam und die Aktie um fünf Prozent fiel. Im umgekehrten Fall stieg der Börsenkurs von Take 2 um zwanzig Prozent, nachdem das Actionspiel "Bioshock" hohe Wertungen erhielt.

Analysten wie der für Wedbush arbeitende Michael Pachter ziehen zur Beurteilung von Firmen die Metacritic-Werte heran. Das hat auch Auswirkungen auf die Firmen selbst: Entwickler bekommen einen Bonus, wenn ihr Spiel eine gewisse Zahl überschreitet, Einkäufer großer Handelsketten bestellen nach Metacritic-Score und verlangen Rabatte, wenn dieser unter eine gewisse Grenze rutscht. Absurd, wenn man bedenkt, dass sich dieser Wert auf das subjektive Empfinden von Rezensenten gründet.

Alle schielen nur noch auf die Zahlen

Dass es dazu kommen konnte, liegt aber nicht nur an Metacritic, sondern auch an der Art und Weise, wie Videospiele in Fachzeitschriften und Web-Seiten bewertet werden: mit Zahlen. Immer absurdere Tabellen haben sich die Magazinmacher in den letzten zehn Jahren ausgedacht. Ausgefeilt wird dort Grafik und Technik getestet, wird der Spielspaß in Kurven über die Dauer des Spiels gemessen, wird so getan, als ob ein Spiel objektiv bewertbar ist, die Spielerfahrung für alle Menschen gleich.

Vergleichbar mit einem Test eines Toasters oder einer Waschmaschine - und selbst da haben Menschen noch ihre Vorlieben und Abneigungen. Zahlen wurden zum wichtigsten Mittel, die Qualität eines Spiels zu beschreiben, Texte beschränkten sich oft darauf, kurz die Story und Spielelemente zu beschreiben. Man hat sich also seine Leser erzogen, wie Ex-Gamestar-Chefredakteur Christian Schmidt kürzlich in einem Essay für SPIEGEL ONLINE schrieb.

Diese Leser verhalten sich inzwischen entsprechend. Pöbeln, wenn ihr Lieblingsspiel eine ihrer Meinung nach zu schlechte Wertung bekommt, beschimpfen und bedrohen die Autoren und unternehmen zuweilen offenbar nicht einmal den Versuch, den dazugehörigen Text zu lesen. Für Journalisten wächst so der Druck, bloß nicht zu weit vom Mittelwert abzuweichen, denn sie wissen: Ihre Leser werden sofort die Metacritic-Zahl hervorkramen. So beeinflusst die Seite ihrerseits Rezensenten.

Der amerikanische Journalist Jim Sterling von der Web-Seite Destructoid  versucht regelmäßig, sich dem Druck zu widersetzen, vergibt für technisch unterirdische Spiele wie "Deadly Premonition" die volle Punktzahl und watscht den Kritikerliebling "Heavy Rain" ab. Nachvollziehbar, wenn man seine Texte liest, im reinen Vergleich der Punktwerte aber kaum verständlich. Sterling braucht ein dickes Fell. Nach seiner "Heavy Rain"-Rezension gab ein Leserbriefschreiber seiner Hoffnung Ausdruck, Sterlings Familie "möge in der Hölle schmoren".

Längst machen sich die Hersteller Metacritic für ihre PR-Arbeit zunutze. Sie geben Testmuster nur an Journalisten heraus, von denen sie wissen, dass sie das Genre oder gar die Spielereihe mögen. Die ersten Wertungen, die in Metacritic einfließen, sollen hoch sein, das setzt die Nachfolgenden unter Druck. Umgekehrt funktioniert das natürlich auch: Ein Spiel, das zunächst niedrige Wertungen bekommt, verführt andere Journalisten möglicherweise dazu, ihrerseits niedrige Noten zu vergeben. Und Titel, die die Kritik buchstäblich spalten, kommen im Mittelwertssystem zwangsläufig eher schlecht weg. Weil die womöglich gut begründeten Lobeshymnen von den Negativstimmen ausgeglichen werden.

Es ist eine verfahrene Situation, in die sich die Branche begeben hat. Sie ist von Zahlen abhängig geworden, die eigentlich nur eines beschreiben können: Ob die Person, die sie vergibt, Spaß beim spielen hatte oder nicht. Daraus hat sie ein System gemacht, in dem alle nur noch auf die Zahlen schielen. Gleichzeitig drehen sie an einer Spirale, in der nur noch Wertungen als akzeptabel angesehen werden, die über 85 Prozent liegen. Das ist in etwa mit der Schulnote 2+ vergleichbar. Hier aber kann man mit einer 2- schon durchfallen.

Mehr lesen über

Verwandte Artikel