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MySpace: Vom wilden Netzwerk zur langweiligen Bushaltestelle

Lehren aus dem MySpace-Debakel Vier Wege, um alle Freunde zu verlieren

Die Nutzer hauen ab, der Neustart scheitert, und am Ende steht der Ausverkauf: Dieses Schicksal des einst so erfolgreichen Netzwerks MySpace wird weitere Social Networks treffen. Selbst das mächtige Facebook ist davor nicht sicher - es sei denn, die Betreiber beachten ein paar wichtige Dinge.

Da sage noch einer, das Internet wäre ein schnelllebiges Medium! Seit bald vier Jahren gibt es genügend Anlässe, um Horrormeldungen über den Tod von MySpace zu schreiben: der Verlust der Spitzenposition bei den Nutzerzahlen an Facebook (2008); der misslungene Relaunch (2010); die Ankündigung von News Corp., MySpace verkaufen zu wollen, sowie die massenhaften Entlassungen (2011) - und jetzt die Nachricht, dass das soziale Netzwerk für einen Ramschpreis von 35 Millionen US-Dollar den Besitzer gewechselt hat. Einen positiven Aspekt hat das langsame Sterben von MySpace dennoch: Es bietet genug Stoff für vier Lektionen über soziale Netzwerke und ihre Nutzer.

Lektion 1: Beute deine Nutzer aus!

"MySpace ist kein Ort, an dem Leute sich darüber austauschen, was sie so vorhaben", sagte MySpace-Präsident Jason Hirschhorn 2010 . "Es ist ein Ort, an dem sich Leute darüber austauschen, was sie mögen." Dieses Zitat beinhaltet die anderthalb größten Fehleinschätzungen, auf denen MySpace basiert. Denn wenn der Erfolg von Facebook eines zeigt, dann ist es das: Leute wollen nichts lieber, als sich darüber auszutauschen, was sie so vorhaben. Einige der erfolgreichsten Facebook-Features wie Status-Update, Newsfeed oder Places sind allein für diesen Zweck geschaffen worden.

In dieser Entwicklung spiegelt sich das wandelnde Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit wider, das der Soziologe Richard Sennett schon 1977 als "Tyrannei der Intimität" beschrieben hat: Beziehungen basieren zunehmend auf seelischem Striptease. Verrate ich etwas Intimes über mich, musst du dich auch entblößen. Kein Zufall also, dass "Second Life", das cyber-utopische Spiel mit der Identität, in gleichem Maße an Attraktivität verloren hat, wie Facebook sie gewonnen hat. Die meisten Nutzer wollen online niemand anderes als sie selbst sein.

Zu diesem Man-selbst-sein gehört natürlich auch die öffentliche Bekanntmachung des persönlichen Geschmacks - weshalb MySpace-Chef Hirschhorn nur halb falsch lag, als er sein Netzwerk als Ort beschrieb, an dem man sich über seine Vorlieben austauscht. Aber was ist für Millionen von Nutzern offensichtlich noch attraktiver, als andere über die aktuelle Lieblingsband oder den gerade gesehenen Film zu informieren? Dies mit einem einzigen Klick tun zu können! Genau das erledigt der Like-Button von Facebook. Er ermöglicht ein Fan-Bekenntnis ohne Fantum - schließlich muss man nicht einmal mehr den Titel eines Albums eingeben oder einen Link setzen, um anderen zu zeigen, für was man sich interessiert. Woraus sich die zweite Lektion ergibt:

Lektion 2: Überfordere deine Nutzer nicht!

Wer sind meine Top-8-Freunde, und wer von ihnen belegt den ersten Platz? Welches Hintergrundmuster wähle ich für mein Profil, und welche Musik lade ich hoch? Auf MySpace-Nutzer der ersten Stunde muss das soziale Netzwerk wie das digitale Paradies gewirkt haben. Kaum Vorgaben, überall Möglichkeiten. Nicht ganz zufällig klingt das wie die Wunschvorstellung eines Teenagers von einer sturmfreien Bude - einem Raum, in dem er sich unbeobachtet von den Eltern nach Herzenslust austoben kann.

Doch wer will sich online schon permanent austoben? Nicht nur ältere Nutzer waren von der Kreativität und dem Engagement, die ein attraktives MySpace-Profil verlangt, überfordert. Eine Facebook-Seite sieht dagegen schon mit wenigen Fotos und Postings gefüllt und gepflegt aus. Aber auch Jüngere fanden das aufgeräumte, "sauberere" Layout von Facebook attraktiver. Die US-Ethnologin Danah Boyd hat hinter der Massenabwanderung von Teenagern von MySpace zu Facebook ein Muster entdeckt, das beim Strukturwandel US-amerikanischer Städte zum Tragen kam: der "white flight".  Weil wohlhabende, weiße Familien die Innenstädte der USA zunehmend als verwahrlost wahrnahmen und ihre Kinder der ethnischen Vermischung in den Schulen entziehen wollten, wanderten sie im 20. Jahrhundert in die Vorstädte aus. Zurück blieben Innenstädte, die sich immer mehr in schwarze Ghettos verwandelten.

In Interviews mit jugendlichen Nutzern stellte Boyd fest, dass sie Facebook mit ähnlichen Eigenschaften wie die Vororte beschrieben: sauber, geordnet, von gebildeten Menschen genutzt. Bunte, selbstgestaltete MySpace-Profile wirkten dagegen abschreckend: wild, dreckig, ungeordnet - eben wie eine Wand, die mit Graffiti besprüht wurde. Offensichtlich waren die Gestaltungsmöglichkeiten von MySpace für die meisten jugendlichen Nutzer weder für sie persönlich attraktiv, noch schätzten sie es, wenn andere sich online "austobten". Nutzer sozialer Netzwerke scheinen deshalb konservativer zu sein, als bislang angenommen wurde - und trotzdem gilt Lektion 3:

Lektion 3: Keine Angst vor prinzipientreuen Nutzern!

Was war die Empörung doch groß: 2005 kaufte Rupert Murdochs News Corp. MySpace, und als wäre das offensive Engagement des Medienkonglomerats für konservative und neoliberale Politiker weltweit nicht schlimm genug, löschte MySpace unter dem neuen Besitzer gleich reihenweise Profile von homosexuellen oder queeren Künstlern und Nutzern . Und 2011? Nimmt Facebook Fotos, auf denen sich Homosexuelle küssen, offensichtlich routinemäßig von seiner Seite , ohne dass es größere Proteste gibt.

Eine ähnliche Inkonsequenz der Nutzer lässt sich auch im Verhältnis zu den deutschen VZ-Netzwerken erkennen. Nach diversen Datenskandalen haben StudiVZ, SchülerVZ und MeinVZ technisch kräftig nachgerüstet und bekommen in Sachen Datensicherheit mittlerweile gute Noten von Verbraucherschützern. Trotzdem wechseln die Nutzer weiterhin massenweise zu Facebook - obwohl sie dort dazu gedrängt werden, immer mehr ihrer Daten immer mehr Menschen zugänglich zu machen. Für soziale Netzwerke scheint daher zu gelten: Einer muss die Fehler und das Unverzeihliche machen, der Rest kommt ungeschoren davon.

Betrachtet man die Moden, denen soziale Netzwerke unterliegen - von SixDegrees über Friendster und MySpace bis Facebook - wird außerdem klar: Tote bleiben tot. Ist das Image eines sozialen Netzwerks einmal ramponiert, gibt es keinen Weg zurück. Selbst wenn neue Angebote einfach nur die Strukturmerkmale ihrer Vorgänger kopieren, werden sie damit erfolgreicher sein als die Pioniere. Der Hunger nach Neuem ist unter Nutzern einfach viel zu verbreitet - auch, weil man in einem neuen Netzwerk aus den alten Fehlern (zu viele "Freunde", die falschen "Freunde", zu viel Unsinn gepostet) lernen und von vorn beginnen kann. Und so gilt viertens:

Lektion 4: Vergiss den Relaunch!

Auf die Frage, was MySpace falsch gemacht hat, antwortete der ehemalige Facebook-Präsident und Napster-Gründer Sean Parker:   "Sie haben bei der Produktentwicklung versagt. Sie haben es nicht geschafft, das Produkt genug zu pflegen und weiterzuentwickeln. Im Grunde genommen war das ein Haufen schlechten Designs, der viele, viele Jahre weiterexistierte." Auch wenn es leicht ist, auf einen ehemaligen Konkurrenten einzuprügeln, der bereits seit langem angezählt ist, hat Parker recht: Bei MySpace verzichtete man zu lange darauf, die Plattform weiterzuentwickeln und die Neugier seiner Nutzer mit technischen Innovationen - und seien es nur Spiele - weiter zu kitzeln.

Dabei zeigt sich bei jedem sozialen Netzwerk, dass der Thrill, neue Kontakte zu finden und zu pflegen, keinen Bestand hat. Über kurz oder lang erreicht die Vernetzung ein Plateau, von wo aus sie sich nur noch sehr langsam weiterentwickelt. Um Nutzer an diesem Punkt weiter an das Netzwerk zu binden, müssen andere Funktionen her. Bei MySpace dachte man aber über die Vernetzung nicht hinaus. Das hatte zwar etwas angenehm Bescheidenes - schließlich wollte man sich nicht das gesamte Online-Leben seiner Nutzer einverleiben, wie es Facebook mittlerweile tut. Gleichzeitig fand man aber keinen anderen Weg, um die Plattform weiterzuentwickeln, schlimmer noch: Man machte die Einbindung anderer Seiten und Anwendungen wie das Einbetten von YouTube-Videos unnötig kompliziert.

Der Relaunch im Herbst 2010 kam deshalb nicht zu spät, er war grundsätzlich das falsche Mittel. Das komplette Redesign der Seite sowie die Fokussierung auf die Musiksparte machten nur noch deutlicher, wie groß der Erneuerungsbedarf inzwischen war - oder besser: gewesen war. Damit merkte auch der letzte treue Nutzer, in welche Nöte sich sein Netzwerk gebracht hatte - die Folge: der Exodus von zehn Millionen Nutzern, das entsprach rund einem Siebtel, allein innerhalb des ersten Monats nach dem Relaunch. Die letzte Lektion, die der Untergang von MySpace deshalb lehrt, ist: Nach dem Stillstand kommt bei sozialen Netzwerken nur der Tod.

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