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Syrische Flüchtlinge in der Türkei: Hinter uns das Grauen

Foto: MUSTAFA OZER/ AFP

Syrische Flüchtlinge in der Türkei Hinter der Grenze lauert das Grauen

Die Flüchtlinge berichten von Hinrichtungen, Leichen auf den Straßen, willkürlicher Gewalt: Syriens Herrscher Assad vertreibt sein eigenes Volk, Tausende haben sich über die Grenze in die Türkei gerettet. Dort werden sie nicht immer mit offenen Armen empfangen.

Als sie die Nachbarn erschossen, hat Mustafa L. es nicht mehr ausgehalten. Seine Frau war im achten Monat schwanger, kein guter Zeitpunkt, um die Sachen zu packen und nach einer neuen Bleibe in einem anderen Land, nach einer neuen Zukunft zu suchen. Viele Menschen waren schon umgebracht worden von der syrischen Armee, wahllos, grundlos. Immer wieder hatten L. und seine Frau in ihrem Dorf Zaini sich eingeredet, hierhin werde das Unglück schon nicht kommen.

"Aber dann kamen sie, in ihren Militärjeeps, sprangen raus und töteten die Nachbarn. Die ganze Familie", sagt L. Er sitzt auf dem Fußboden, mit der linken Hand schaukelt er die Wiege, in der seine zwei Monate alte Tochter liegt, in der rechten hält er eine Zigarette. Er rauche viel in diesen Tagen, sagt er. "Nervosität", erklärt er.

Zaini, sein Heimatdorf, liegt ein paar Kilometer von der nordwestsyrischen Stadt Dschisr al-Schughur entfernt, etwa zehn Kilometer von der Grenze zur Türkei entfernt. L. ahnte, dass die Lage nur noch schlimmer werden würde, dass niemand mehr sicher war vor Soldaten, Aufständischen, Banden. Gemeinsam mit seiner schwangeren Frau und deren Schwester floh er zu Fuß zur Grenze, die Familie fand eine Bleibe in einer Zeltstadt auf der syrischen Seite. "Dort kam im April meine Tochter zur Welt", sagt er und lächelt. "Die türkischen Soldaten ließen uns nicht passieren, aber eines Tages regnete es, und die Bewacher zogen sich zurück. Wir wussten: Das ist unsere Chance. Wir schnitten ein Loch in den Zaun."

Vergangene Woche war L. wieder in Syrien. Er ging so heimlich zurück in seine Heimat, wie er in die Türkei gekommen war. "Ich wollte nach meinen Eltern sehen und nach meinen Geschwistern, denn wir hörten im Radio, dass die Armee auf Dschisr al-Schughur schießt." Dort sollten sich desertierte Soldaten verschanzt haben, die sich gegen das Regime von Baschar al-Assad gewendet hatten. Am Sonntag kam es nach Angaben von Flüchtlingen zu heftigen Gefechten, am Ende brachte die Armee die Stadt wieder unter ihre Kontrolle. L. sagt, er sei am Montag zurück in die Türkei geflohen. "Ich habe Leichen gesehen, die ganz aufgebläht waren durch die Hitze. Die Soldaten haben auf alles geschossen, was sich bewegte: Menschen und Tiere, Erwachsene und Kinder. Auf alles."

"Assad ist ein Mörder"

L. wollte nicht warten und übertrat die Grenze wieder illegal. Seine Familie hatte er bei einem Verwandten in der Stadt Antakya untergebracht. "Wir sind dankbar, dass jemand uns versorgt." Zurück nach Syrien wolle er "nie, nie wieder". Diese Bilder werde er nicht mehr vergessen, vor allem die toten Nachbarn nicht. "Assad ist ein böser Mensch, ein Mörder. Er hasst sein eigenes Volk. Warum sollte ich in seinem Land leben wollen?" Er müsse sich demnächst einen Job suchen, bisher hat er als Verkäufer gearbeitet. "Das wird schwierig, ich hab ja keine Papiere. Aber wenn sie mich abschieben nach Syrien, ist mein Leben in Gefahr."

Niemand will zurück nach Syrien, jedenfalls nicht, solange Assad herrscht. "Das ist unsere Heimat, aber unsere Heimat hat uns verstoßen", sagt Abdul, der zu den Tausenden von Flüchtlingen zählt, die die Türkei offiziell ins Land gelassen hat. Abdul lebt jetzt in einem Flüchtlingslager in dem Ort Yayladagi, im äußersten Südosten der Türkei. Nach Syrien kann man hinüberschauen. Allein hier sollen inzwischen mehr als 9000 Menschen untergekommen sein, ein paar weitere Tausend sind es in einem anderen Lager in Altinözü, 30 Kilometer weiter nördlich.

Es ist ein staatliches Tabak- und Alkoholdepot, das die türkische Regierung zu einem Flüchtlingslager umfunktioniert hat. "Die Turnhalle reichte nicht mehr", sagt ein Polizist. Aus dem Lager klingt Kindergeschrei, Menschen unterhalten sich, lachen, essen, man hört das Geklapper von Geschirr. Frauen hängen Wäsche auf, Männer hocken unter Bäumen und spielen Karten. Der türkische Rote Halbmond hat Zelte aufgebaut, Hunderte, draußen stehen noch die Lastwagen, mit denen das Material hergefahren wurde.

Im Lager reden sie nur von: Angelina Jolie

Der Zaun ist mit blauer Plane verhängt, man will nicht, dass die Bewohner gesehen werden, aber an manchen Stellen gibt es Löcher. "Kein Zutritt für Reporter!", sagt ein Polizist am Eingang. Seit Tagen verharren hier Journalisten aus aller Welt. Selbst Uno-Mitarbeiter sagen, sie hätten Schwierigkeiten, Kontakt zu den Flüchtlingen zu bekommen. "Dabei finden wir, soweit wir das beurteilen können, dass die Hilfe vorbildlich läuft", sagt ein Uno-Mann. Um den Zugang zu erleichtern - und gleichzeitig die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf diesen Teil der Welt zu lenken -, soll am Freitag Angelina Jolie nach Yayladagi kommen. Im Lager reden sie von nichts anderem mehr. Jeder kennt Angelina Jolie, jeder hofft, sie persönlich zu sehen.

Direkt am Eingang befindet sich das Krankenlager. Man sieht Männer und Frauen in Betten liegen, mit Verbänden an den Beinen. "Die syrischen Soldaten haben sofort geschossen, wenn sie jemanden fliehen sehen haben", sagt ein Flüchtling durch den Zaun des Lagers in Yayladagi hindurch. Ein Loch ist in der Plane, solange keine Polizeipatrouille unterwegs ist, können die Syrer hier ihre Geschichten erzählen. "Wer es geschafft hat, kam oft mit Schussverletzungen in den Beinen davon", sagt Abdul. Die Schwerverletzten seien im Krankenhaus von Antakya. Ein anderer berichtet, er habe viele Menschen mit Schussverletzungen auf den Straßen verbluten sehen.

Ihre größte Sorge sei, dass sie zurück nach Syrien geschickt würden, sagt Abdul. "Selbst wenn Assad uns Sicherheit verspricht, wer garantiert uns, dass wir nicht doch noch ein paar Wochen oder Monate später umgebracht werden? Wenn niemand mehr darauf achtet, was hier passiert?"

So, wie es aussieht, sagt ein anderer Flüchtling, ein desertierter Soldat, würden die Proteste in Syrien weiter zunehmen. "Vielleicht schon heute, nach den Freitagsgebeten." Gerüchte von einem bevorstehenden Aufruhr machen die Runde, und davon, dass in den vergangenen Tagen weitere Tausende von Menschen an die Grenze gekommen seien und jetzt auf Einreise in die Türkei warteten.

Misstrauen gegen Geschichten der Flüchtlinge

In Yayladagi, Altinözü, Antakya sind die Menschen hin- und hergerissen in ihren Meinungen über die Flüchtlinge. "Wir hören, was die Flüchtlinge erzählen", sagt ein Kaufmann im Ortskern von Yayladagi. "Das ist schlimm, wir müssen ihnen helfen", sagt er. Seine Frau hat einen Zettel in das Schaufenster des Lebensmittelladens gehängt. "Willkommen in der Türkei", steht darauf. "Aber die können natürlich nicht dauerhaft hier bleiben", sagt der Mann. Ein Händler in Altinözü erklärt, die Syrer seien "arme Leute ohne Zukunft", deshalb kämen sie in die Türkei.

Andere sagen, sie glaubten den Geschichten der Flüchtlinge nicht. Das syrische Staatsfernsehen habe schließlich Berichte gesendet, wonach es keine Demokratiebewegung gebe, sondern nur islamistische Extremisten und gewalttätige Rebellen. "Diese Leute und solche, die arm sind, nutzen jetzt die Gelegenheit, zu uns zu kommen", sagt der Betreiber eines Telefonladens in Antakya. "In Wahrheit wissen wir nicht, was wir glauben sollen", sagt sein Geschäftspartner. "Man hört so viel, und dann stellt es sich als falsch heraus." Man werde abwarten müssen, was die Zukunft bringt.