Zum Inhalt springen

Einsatz in Afghanistan Obama gibt den Abzugsbefehl

US-Präsident Obama hat sich zu einem schnellen Truppenabzug in Afghanistan entschlossen - gegen den Willen seiner Militärs. Er weiß: Die immensen Kriegskosten lassen sich dem Wähler nicht länger verkaufen.
Einsatz in Afghanistan: Obama gibt den Abzugsbefehl

Einsatz in Afghanistan: Obama gibt den Abzugsbefehl

Foto: ADEK BERRY/ AFP

Das 45th Infantry Brigade Combat Team hat eine stolze Geschichte. Die Infanterie-Einheit der US-Nationalgarde, genannt "Thunderbird", geht auf eine Division zurück, die sich im zweiten Weltkrieg von Sizilien bis Deutschland durchschlug, an der Seite des legendären Generals George Patton. Zuletzt kämpfte sie in Bosnien, im Irak und in Afghanistan, wo sie von Anfang an dabei war, seit Herbst 2003.

Auch jetzt sollten sie wieder los, zu einer neuen Tour - 3500 Soldaten, ihre größte Einzelmobilisierung seit dem Koreakrieg. "Meine Reaktion war helle Freude", sagte Sergeant Kyle Hyden dem TV-Lokalsender News 9, als er davon erfuhr. "Es ist eine Ehre."

Doch jetzt kam es anders. Die Soldaten steckten schon mitten im Abschlusstraining, als ihr Marschbefehl vorige Woche geändert wurde: Fast 1000 von ihnen werden nun nach Kuwait geschickt. Der Grund: Ab Juli werden sie in Afghanistan nicht mehr gebraucht.

Fotostrecke

Einsatz in Afghanistan: Abzug aus einem geschundenen Land

Foto: Anja Niedringhaus/ AP

Die präventive Umleitung erfolgte, noch bevor US-Präsident Barack Obama seine vollen Abzugspläne für Afghanistan in der Nacht zum Donnerstag bekanntgab. "Wir wollten sie nicht irgendwohin schicken", erklärte Pentagon-Chef Robert Gates den vorauseilenden Gehorsam, "um sie dann wieder zurückholen zu müssen."

Dass die USA ihre Truppen in Afghanistan reduzieren würden, war längst bekannt - offen war nur, wie stark, wie schnell und bis wann. Das waren die Fragen, als Obama in den East Room des Weißen Hauses trat und den Anfang vom Ende in Afghanistan einläutete.

"Heute Abend", sagte Obama, "finden wir Trost in der Gewissheit, dass die Flut des Krieges verebbt." Er stand in der gleichen Kulisse, in der er Anfang Mai auch den Tod Osama Bin Ladens bekanntgegeben hatte - ein Ereignis, das für viele Amerikaner die jetzige Entscheidung vorwegnahm. "Amerika, es ist an der Zeit, sich der Staatenbildung hier zu Hause zu widmen."

Deshalb nun also die Abkehr von einer Front, die sich hier seither kaum mehr rechtfertigen lässt. 10.000 US-Soldaten werden zum Jahresende heimkommen, bis Sommer 2012 sollen 23.000 weitere folgen: "Im September, wenn nicht früher, da bleiben wir flexibel", präzisierte ein Obama-Berater. Auf jeden Fall rechtzeitig zur nächsten Präsidentschaftswahl.

Insgesamt wären damit 33.000 US-Soldaten wieder abgezogen - die gesamte "Surge", jene Truppenschwemme, die Obama Anfang 2010 nach Afghanistan entsandt hatte. Übrig blieben dann noch rund 68.000 Soldaten, die bis 2014 weitgehend zurückkehren sollen.

Eine Viertelstunde für ein ganzes Jahrzehnt

Knapp 15 Minuten brauchte Obama, um ein ganzes Kriegsjahrzehnt abzuwickeln, mit ein paar eloquenten Sätzen. Ein Jahrzehnt, wie er selbst noch einmal in Erinnerung brachte, in dem rund 6000 US-Soldaten fielen, davon mehr als 1600 in Afghanistan: "Männer und Frauen, die die Freiheit, die sie verteidigt haben, nicht mehr genießen können."

Doch die "profunden Kosten" dieser Einsätze, wie Obama es formulierte, liegen längst auch woanders - wo sie die meisten Amerikaner am eigenen Leibe verspüren: "Wir haben Billionen Dollar für Kriege ausgegeben, bei steigender Staatsverschuldung und harten wirtschaftlichen Zeiten." Es ist gerade dieses neuerdings immer prägnantere Argument, das Obama innenpolitisch am schwersten drückt - was die jüngsten Umfragen zeigen: Die Mehrheit der Wähler ist kriegsmüde.

Die Abzugszahlen - über die Washington heftig spekuliert hatte - dürften vielen Amerikanern auf den ersten Blick genügen. Wie sie bei den US-Koalitionspartnern ankommen, ist eine andere Frage. Obama hatte die Verbündeten telefonisch gebrieft - Großbritanniens Premier David Cameron, Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen.

Mit seinem Beschluss setzte sich Obama über den Rat der eigenen Militärs hinweg. Die hatten intern für einen deutlich langsameren Truppenabbau plädiert, aus Angst vor einem Wiedererstarken der Extremisten. Gates hatte sich sogar öffentlich für einen Abzug von zunächst höchstens 5000 Soldaten eingesetzt.

Auch Außenministerin Hillary Clinton und General David Petraeus, der Afghanistan-Oberkommandeur, drückten hinter den Kulissen bis zuletzt auf die Bremse. Beide werden sich am Donnerstag unabhängig vor zwei Senatsausschüssen verantworten müssen.

"Wir versuchen nicht, Afghanistan zu einem perfekten Ort zu machen"

Obama begründete seinen Entschluss nicht mit den naheliegenden, wahltaktischen Argumenten, sondern kleidete ihn vor allem in eher abstrakt-strategische Erwägungen. Drei Maßgaben, sagte er, habe er für die "surge" gesetzt: "sich neu auf al-Qaida konzentrieren, den Taliban den Schwung nehmen und die afghanischen Sicherheitskräfte trainieren, so dass sie ihr eigenes Land verteidigen können".

Deren Erfolg sei nun absehbar: "Wir erfüllen unsere Ziele." Mehr als die Hälfte der Qaida-Spitze sei "ausgeschaltet", allen voran Osama Bin Laden, "der einzige Führer, den al-Qaida je kannte". Auch die Taliban hätten "ernsthafte Verluste" erlitten. Afghanistan stelle keine terroristische Bedrohung mehr für die USA dar.

Das markiert zugleich auch das Ende anderer, hochtrabender US-Ambitionen - nicht nur am Hindukusch. "Wir werden nicht versuchen, Afghanistan zu einem perfekten Ort zu machen" gestand Obama ein. Da dürfte sich den letzten Neocons der Magen umgedreht haben. Klar war schon zuvor: Ob schneller oder behutsamer Abzug - Obama würde auf Widerstand stoßen. Das sprach er auch selbst an: Die einen wollten, "dass Amerika sich von unserer Verantwortung als ein Anker der globalen Sicherheit zurückzieht" und zum Isolationismus zurückkehre. Die anderen wollten, "dass sich Amerika verausgabt und jedes Böse konfrontiert, das sich im Ausland finden lässt".

Wie auf Kommando verwies die linke Basis prompt darauf, dass Ende 2012 immer noch doppelt so viele Truppen in Afghanistan verbleiben würden wie zu Obamas Amtsantritt. "Warum", fragte MSNBC-Anchorfrau Rachel Maddow, eine Wortführerin des Friedensflügels, am Abend, "muss das so langsam gehen?" "Ich bin von der Rede enttäuscht", sagte auch der demokratische Kongressabgeordnete Barney Frank. Die Abzugspläne seien "nicht annähernd gut genug". So viele Soldaten in Afghanistan zu belassen, sei bei der US-Haushaltslage nicht vertretbar: "Wir können nicht jedes Rattenloch auf der Welt zustopfen."

Geht der Abzug zu schnell?

Dieser Einwand kam verblüffenderweise auch von der Gegenseite, aus dem Lager der republikanischen Präsidentschaftskandidaten. Schließlich müssen die sich mit den Wählern in der ausgebluteten US-Provinz herumschlagen, denen die Kriegskosten - dieses Jahr mehr als 120 Milliarden Dollar - nicht mehr schmecken.

Andere führende Republikaner erklärten dagegen, ihnen gehe der Abzug zu schnell. Obama sollte auf seine Militärs hören, mahnte John Boehner, der Sprecher des Repräsentantenhauses, ein "überstürzter Abzug" könnte den Erfolg sabotieren. Ähnlich hatte sich auch schon Senator John McCain ausgelassen, einer der maßgeblichen Außenexperten im Kongress.

Obama schert sich bekanntlich wenig um Sperrfeuer, egal aus welcher Partei. Wie immer hat er auch diesmal den Mittelweg gewählt - ein "Kurs der Mitte", wie er es nannte. Die Gefahr: Im Wunsch, es allen recht zu machen, vergrätzt er viele.

Deshalb begibt sich Obama am Donnerstag auf PR-Tour für seine Pläne: Im Armeestützpunkt Fort Drum im Bundesstaat New York wird er die 10th Mountain Division besuchen. Deren Soldaten gehören zu den kriegserfahrensten der USA.

Erst vorigen Mittwoch kehrte einer der Ihren aus Afghanistan zurück, Chief Warrant Officer Bradley Justin Gaudet - in einem Sarg, der an den salutierenden Kameraden vorbeigetragen wurde. Der 31-Jährige war zwei Wochen zuvor beim Absturz eines Helikopters umgekommen.

In der chronologischen Todesstatistik des US-Militärs für Afghanistan war er die Nr. 1606.