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Gewalt in Ägypten: Kairo wird zum Kriegsschauplatz

Foto: Hussein Tallal/ AP/dpa

Staatskrise in Ägypten Der Horror von Kairo

Entsetzlich zugerichtete Leichen, mehr als tausend Verletzte: Mit der Räumung der Mursi-Lager wollte die Regierung Ruhe in Kairo schaffen - doch jetzt herrscht Ausnahmezustand im ganzen Land. Die Menschen befürchten "Krieg zwischen den zwei Ägypten".

Dr. Mohammed Abdelazim will, dass man sich die Toten ganz genau anschaut. Den Mann, dem ein Kopfschuss die Augen aus dem Gesicht hat platzen lassen. Den Mann, dessen Därme sich in roten Schlingen auf seiner Bauchdecke kringeln. Den Mann mit dem hochgebundenen Kinn, dessen Augen ins Leere stieren.

"Sie müssen hingucken", mahnt der Doktor die Ausländerin, die das alles lieber nicht sehen will. "Sie sind Zeugin. Sie müssen der Welt sagen, was hier geschieht. Uns glaubt doch keiner", sagt der Arzt in seinem blutverschmierten T-Shirt.

Mittwochnachmittag im Innenhof der Mustafa Mahmud Moschee, einem Stadtteil von Kairos Nachbarstadt Gizeh. Dutzende Männer drängen sich um den zu ebener Erde gelegenen Verwaltungstrakt, in dem die Toten zwischen Bürostühlen und Schreibtischen liegen. Drinnen läuft die Klimaanlage auf Hochtouren, es stinkt trotzdem nach Blut und Fäkalien. Ein dicker Mann hält blaue Zettel mit Namen in einer zur Faust geballten Hand: 19 Tote sind seiner Zählung nach bereits identifiziert.

"Zwölf sind schon weggebracht worden, die anderen werden jetzt verlegt", sagt der dicke Mann, dann hebt schon ein Sprechchor an. "Allahu Akbar", Gott ist groß, ruft die Menge und weicht beiseite, als Männer einen Toten auf ihren Schultern Richtung Ausgang tragen: Er ist eines der Opfer eines Massakers, das in Kairo, das in Ägypten, das in der ganzen Welt seit Tagen befürchtet wurde.

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Seit die ägyptische Armeeführung am Sonntag angekündigt hatte, die beiden großen Protestlager, in denen die Anhänger der Muslimbrüder gegen die Absetzung ihres Präsidenten Mohammed Mursi protestierten, räumen zu wollen, war klar, dass das Nil-Land auf ein neues Blutbad zusteuerte. Dass sie sich nicht scheuen, tödliche Gewalt gegen die Anhänger der Islamisten anzuwenden, hatten die Sicherheitskräfte seit dem Militärputsch Anfang Juli mehrfach unter Beweis gestellt. Die blutigen Zusammenstöße, die Ägypten seitdem erschüttern, hatten bereits über 200 Tote gefordert, als Armee und Polizei im Morgengrauen des Mittwochs gegen die zwei Zeltstädte der Brüder vorrückten.

Blutigster Tag in der jüngeren Geschichte Ägyptens

Wie viele Opfer bis zum Abend dazugekommen waren, war bei Sonnenuntergang völlig unklar: Das Gesundheitsministerium bezifferte die Toten auf 149. Die Muslimbrüder hatten im Laufe des Tages von viel mehr, von bis zu 2000 Getöteten berichtet. Die Uno ging am Abend von vielen hundert Toten aus.

Ob sich je herausstellen wird, wie viele Menschen an diesem blutigsten Tag in der jüngeren Geschichte Ägyptens ihr Leben verloren, darf bezweifelt werden: Schon im Laufe des Tages zeichnete sich ab, dass die beiden verfeindeten Lager in Ägypten zwei diametral widersprechende Versionen der Ereignisse verbreiteten. Nach Angaben der Armee, der von ihr eingesetzten Regierung und den von ihr kontrollierten Medien waren es die Muslimbrüder, die sich der Räumung ihrer Camps mit Waffengewalt widersetzten und so das Blutvergießen auslösten. Nach Aussagen der Muslimbrüder hingegen walzten die Sicherheitskräfte ohne Rücksicht auf Verluste zwei friedliche Sit-ins nieder, während Soldaten Tränengas, Schrot und scharfe Munition in die Menge schossen.

Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen, wobei wohl niemand bezweifelt, dass Armee und Polizei für die meisten Toten verantwortlich sind. Ihr Hinweis auf die Notwendigkeit zur Selbstverteidigung ist wackelig: Zwar gibt es Bilder von Zivilisten mit Gewehren, doch den Beweis, dass die Muslimbrüder koordiniert und in großem Stil Schusswaffen eingesetzt haben, ist die Armee bislang schuldig geblieben.

Den ägyptischen Medien ist das egal: Sie berichten gleichgeschaltet und unhinterfragt, was die Führung vorgibt. Wenn die Muslimbrüder ihre Version der Ereignisse darstellen wollen, bleiben ihnen nur die ausländischen Medien - deshalb bestehen sie darauf, dass sich Reporter Leichen anschauen.

Die von der Masse der ägyptischen Bevölkerung unterstützte Armeeführung wollte sich mit dem Sturm auf die Protestlager ein schwelendes Problem vom Hals schaffen: Das ist erst einmal missglückt. Denn statt nach Hause zu gehen, besetzten die Mursi-Anhänger andere, kleinere Plätze in Kairo. Statt zwei großen Sit-ins haben Polizei und Armee es nun mit vielen kleinen Sit-Ins zu tun. Schon verbreiten sich die Proteste in anderen Städten des Landes: In Ägypten droht ein Flächenbrand der Gewalt.

"Heute Nacht beginnt der Krieg"

Vor der Mustafa Mahmud Moschee hatten sich am Abend vielleicht 4000 Mursi-Anhänger versammelt, die von ihrem Sit-in vor der nahen Universität von Kairo vertrieben worden waren. Die Moschee liegt in einem Oberklasse-Viertel, das durch die Spuren der Kämpfe seltsam entstellt war. Vor einem Laden, in dem Whirlpools verkauft werden, hatten die Ketten von Panzerfahrzeugen den Asphalt aufgerissen. Vor einem Juwelier trat man auf die Patronenhülsen von AK-47 Sturmgewehren, wie sie die ägyptische Polizei benutzt. Fensterglas bedeckte Bürgersteige, an manchen Stellen trockneten Blutlachen. Erschöpfte Männer und heulende Frauen saßen im Schatten, viele beteten, versuchten, sich für die Nacht zu wappnen.

"Wenn es dunkel wird, werden Armee und Polizei wieder kommen", sagte Mahmud Lutfi, der die Kämpfe des Tages an seinem Arbeitsplatz, einem Geschäft für edle Badezimmer, überstanden hatte. Die reichen Anwohner des Viertels würden sicher ihre Beziehungen spielen lassen, um die Islamisten daran zu hindern, sich in Mohandesin einzunisten, sagt Lutfi, der sich als Anhänger Mursis zu erkennen gab. "Heute Nacht beginnt der Krieg zwischen den zwei Ägypten."

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