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SPIEGEL ONLINE

Armee gegen Muslimbrüder Ägypten versinkt im Chaos

Die Unruhen in Kairo greifen auf ganz Ägypten über. In Alexandria und Port Said toben Straßenschlachten, in anderen Städten brennen Kirchen und christliche Geschäfte. Dutzende Menschen kamen bisher ums Leben. Die Übergangsregierung warnt vor einer weiteren Eskalation.

Kairo - Große Teile Ägyptens gleichen einem Kriegsgebiet. Seit dem Morgen geht das Militär mit großer Härte gegen die Anhänger der Muslimbrüder vor. Sicherheitskräfte stürmten die beiden Protestlager der Islamisten in der Hauptstadt Kairo. Die Lage ist äußerst unübersichtlich, Augenzeugen berichten von Dutzenden toten Demonstranten. Das Gesundheitsministerium meldet 15 Tote und 203 Verletzte. Doch Bilder von Augenzeugen aus Feldhospitälern in Kairo zeigen allein dort mehr als 20 Leichen.

Die Militärpolizei schießt nach Berichten von Journalisten vor Ort mit scharfer Munition auf die Protestierenden. Bewaffnete Kräfte feuerten auch von Häuserdächern aus in die Menge. Außerdem setzten die Sicherheitskräfte Tränengas ein und rückten mit Bulldozern und gepanzerten Fahrzeugen auf die Zeltstädte vor. Das Protestcamp auf dem Nahda-Platz nahe der Universität Kairo wurde nach wenigen Stunden geräumt, die Kämpfe rund um den Rabaa-al-Adawija-Platz im Stadtteil Nasr City halten hingegen auch nach Stunden weiter an. Noch immer harren in dem Viertel Tausende Anhänger der Muslimbruderschaft aus. Sie wehren sich mit Knüppeln, Steinen und Macheten gegen die Angreifer. Außerdem schießen sie Feuerwerkskörper auf die anrückenden Truppen.

Mehrere Funktionäre der Muslimbrüder sollen festgenommen worden sein, unter ihnen Mohammed al-Beltagi, der Generalsekretärs der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, dem politischen Arm der Bruderschaft. Seine 17 Jahre alte Tochter soll unter den Toten sein.

Das öffentliche Leben ist zum Erliegen gekommen

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Ausnahmezustand in Ägypten: Sturm auf die Muslimbrüder

Foto: Manu Brabo/ AP/dpa

Im Stadtteil Mohandessin im Westen Kairos wollen die Muslimbrüder auf dem Mustafa-Mahmud-Platz ein neues Protestlager errichten. Auch dort versuchen Sicherheitskräfte, die Menge mit Gewalt zu vertreiben. Bewohner des Stadtteils versuchen laut Augenzeugen ebenfalls, eine neue Zeltstadt dort zu verhindern. Die Moderatoren des Staatsfernsehens riefen die Bürger auf, sich im ganzen Land den Muslimbrüdern entgegenzustellen.

Doch die Gewalt beschränkt sich nicht auf die Hauptstadt. Auch in anderen Orten liefern sich Sicherheitskräfte Zusammenstöße mit Anhängern des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi. Die Muslimbrüder riefen ihre Unterstützer zu Protesten im ganzen Land auf. In Alexandria fielen Schüsse, ebenso in den Kanalstädte Suez und Port Said. In der Provinz Fajum im Südwesten Kairos sind bei Zusammenstößen nach Krankenhausangaben mindestens neun Menschen getötet worden.

Laut Augenzeugen ist das öffentliche Leben fast überall in Ägypten zum Erliegen gekommen. Der Zugverkehr von und nach Kairo wurde unterbrochen, wichtige Straßen sind abgeriegelt. Auch die Straße zwischen Stadtzentrum und Flughafen wurde zwischenzeitlich gesperrt. Die Armee will so verhindern, dass die Muslimbrüder weitere Unterstützer nach Kairo bringen kann.

In mehreren Städten griffen Mursi-Anhänger Verwaltungsgebäude und Polizeiwachen an. Nach Angaben christlicher Gruppen wurden in Oberägypten mindestens sieben Kirchen in Brand gesetzt. Koptische Organisationen machten Anhänger der Muslimbrüder dafür verantwortlich. Auch Läden von Christen seien angegriffen worden, ohne dass die Sicherheitskräfte einschritten.

Der oberste Islamgelehrte äußert Kritik an der Regierung

Am Mittag wandte sich Übergangs-Premierminister Hasim al-Beblawi an die Ägypter. Er lobte das Innenministerium für das Verhalten der Sicherheitskräfte. Die Polizei habe Zurückhaltung gezeigt. Beblawi warnte vor einer weiteren Eskalation der Lage und drohte zugleich, dass seine Regierung rücksichtslos gegen Provokateure vorgehen werde.

Ahmed al-Tajjib, Imam der Azhar-Universität und damit wichtige islamische Autorität des Landes, distanzierte sich vorsichtig vom Vorgehen der Regierung. Er sagte in einer Audiobotschaft, die im Staatsfernsehen ausgestrahlt wurde, er habe nicht gewusst, dass die Sicherheitskräfte die Proteste am Mittwoch auflösen würden. Tajjib verurteilte das Blutvergießen forderte ein Ende der Zusammenstöße. "Gewalt kann niemals den Dialog ersetzen", sagte der islamische Gelehrte.

Die Europäische Union reagierte bestürzt auf die Eskalation in Ägypten. "Wir weisen nochmals darauf hin, dass Gewalt nicht zu einer Lösung führen wird und rufen die ägyptischen Behörden auf, mit der größtmöglichen Zurückhaltung vorzugehen", erklärte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton am Mittwoch in Brüssel. Sie hatte Ende Juli versucht, zwischen den Konfliktparteien in Kairo zu vermitteln - ohne Erfolg.

Auch Außenminister Guido Westerwelle forderte ein sofortiges Ende des Blutvergießens. Die Übergangsregierung müsse friedliche Proteste zulassen, sagte der Politiker in Berlin. "Wir fordern alle Seiten auf, umgehend zu einem politischen Prozess zurückzukehren, der alle politischen Kräfte einschließt."

syd/dpa/AP/Reuters/AFP
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