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Bilden und fördern Essen nach Regeln

Viel zu viele Kinder und Jugendliche in Deutschland sind übergewichtig. Oft leiden sie unter Bluthochdruck, Diabetes oder Fettleber. Gezielte Programme sollen helfen.
Foto: Lisa Rienermann/ SPIEGEL WISSEN

Die Kinder wollen sich als Tast- und Geschmacksdetektive betätigen. Sie bilden kleine Gruppen und legen los. Zwei Jungs mischen Lebensmittelfarbe in Naturjoghurt, zwei Mädchen schnipseln Birnen und Äpfel, stellen Zucker- und Essigwasser her, wieder andere bereiten eine Kiste mit Lebensmitteln zum Tasten vor. Alle glucksen, lachen, kreischen, die Sinnesexperimente machen ihnen großen Spaß. Nach was schmeckt der rosafarbene Joghurt? Nach Himbeere, nach Erdbeere? Nein! Das ist nur Einbildung! Und wie unterscheiden sich die Geschmäcker salzig, süß, bitter, sauer? Wie fühlt sich eine Avocado an, wie eine ungekochte Nudel?

Der Parcours der Sinne findet im Hamburger Kinderkrankenhaus Wilhelmstift statt, im Rahmen eines Programms für übergewichtige Kinder und ihre Eltern. Das Team aus Ärzten, Ernährungsberatern, Physiotherapeuten, Sozialarbeitern und Psychologen bietet hier unter dem Namen "minus XXL" ein renommiertes Adipositas-Programm für Kinder und Jugendliche an. Während des teilstationären Aufenthalts werden Eltern und Kinder getrennt voneinander geschult, im Anschluss ist eine zunächst einjährige ambulante Nachbetreuung möglich, um das Gelernte zu vertiefen.

"Übergewicht ist ein komplexes Problem", sagt Familientherapeutin Silke Gassner. Sie hat viel Erfahrung, seit elf Jahren arbeitet sie mit übergewichtigen Mädchen und Jungen.

Ein guter Rat allein hilft nicht

Das Alter der Kinder, die an der Aktionswoche teilnehmen, liegt zwischen 8 und 13 Jahren - sie alle wollen gegen die viel zu vielen Kilos etwas unternehmen. Nur wie? Mit dem forschen Rat "weniger essen, mehr bewegen" sei es nicht getan, erklärt Gassner. Wesentlich sind Aufklärung, Bewusstmachung, Einübung neuer Verhaltensweisen, mehr Konfliktfähigkeit - die Experten der Schulungswoche arbeiten auf mehreren Ebenen.

So absolvieren die Eltern ein Einkaufstraining, um versteckte Dickmacher zu erkennen. "Dass in Softgetränken so viel Zucker ist, wusste ich nicht", sagt ein Vater. Auch kochen die Eltern gemeinsam ein Menü, bestehend aus Paprika-Aufstrich, Zucchinisuppe, Rote-Bete-Salat mit Orangendressing, Vollkornnudeln mit Gemüsesauce, Heidelbeermuffins. Alle sind begeistert. "Wo lerne ich, so zu kochen?", fragt eine Mutter und erhält Tipps für Kurse an der Volkshochschule.

Die Eltern treiben Sport unter Anleitung, sie führen Einzel- und Gruppengespräche. Die Atmosphäre ist entspannt, es wird viel gelacht, die Eltern sprechen offen über ihre Probleme. Eine Mutter erzählt, das Übergewicht ihres Sohnes sei nach der Trennung von ihrem Mann entstanden; eine andere sagt, es gebe immer Zoff am Esstisch, weil ihre Tochter ihr Handy nicht weglegen wolle.

"Welche Regeln gibt es denn bei Ihnen bei den Mahlzeiten?", fragt Psychologin Gassner. Die Eltern zucken die Schultern, in keiner Familie, so zeigt sich, gibt es Regeln.

Rituale pflegen

Wie könnte eine Regel lauten? Vor jeder Mahlzeit einen kleinen Salat essen vielleicht? "Den isst meine Tochter hier ja auch", sagt eine Mutter. Gassner erklärt: "Hier essen alle Kinder Salat vor dem Hauptgericht. Das gehört zu unseren Regeln und hat für uns eine hohe Wichtigkeit. Wenn Sie etwas wollen für Ihre Kinder, muss es Ihnen wichtig sein." Die Eltern nicken. Sie begreifen, dass sie Einsatz zeigen müssen für regelmäßige Essensrituale: Salat einkaufen, ihn putzen und ein Dressing zubereiten. Regelmäßige Mahlzeiten sind nicht spießig, sondern ein Stück Lebenskultur. Man spricht miteinander, das schützt und stärkt die Kinder.

Und wie kriegt man nun den Salat ins Kind? Ein Vater sagt: "Meine Tochter mag keinen Salat." Was tun? Einfach entscheiden: Dann gibt es auch sonst nichts? Erscheint allen unvorstellbar. Gassner lacht. "Sie denken, dann sind Sie schlechte Eltern, nicht wahr?" Sie erklärt, dass Kinder Essen als Machtmittel benutzen können und Widerstand herausfordern wollen.

Je kleiner Kinder sind, desto wichtiger ist es, Regeln aufzustellen und durchzusetzen. Nach der Woche im Wilhelmstift muss das Bewusstsein für gute Ernährung wachgehalten werden. Gassner: "Die Verantwortung liegt bei Ihnen. Wie und was gegessen wird, darf nicht egal sein. Seien Sie dabei fürsorglich, liebevoll und konfliktfähig. Wenn Regelverstöße keine Konsequenzen haben, sind Regeln letztlich unwirksam."

"Die Kinder bei der Stange halten"

In kleinen Rollenspielen thematisiert Gassner mit den Eltern die Fragen: Wie setze ich meinem Kind Grenzen? Wie schnell gebe ich nach? Lasse ich mich manipulieren? Wie kann ich verhandeln? "Standhalten, das Kind mit kreativen Alternativen überraschen, im Gespräch bleiben, dabei wollen wir die Eltern stärken", so Gassner. "Denn deren Job ist es, die Kinder bei der Stange zu halten."

Eine Bilanz in der Runde soll deutlich machen, welche Erfahrung bislang die wichtigste war. Die Eltern überlegen nicht lang: dass die Mengen nicht so groß sein müssen. Salat vor dem Hauptgericht. Dass ich kritischer hinschaue beim Einkaufen. Dass die Tochter eingesehen hat: So geht es nicht weiter. Dass ich mit meinem Kind Sport mache, als gutes Vorbild.

Auch die Kinder haben Vorsätze gefasst und sie aufgeschrieben. Nicht mehr so gierig sein. Nicht stopfen. Nicht schlingen. Gut kauen. Langsam essen. Sie fühlen sich, so die Selbsteinschätzung, nur ein bisschen zu dick. Doch alle wollen abnehmen. Ihre Ziele: coolere Klamotten kaufen, eine Freundin finden, nicht mehr verhöhnt werden. "Ich finde es toll hier, zusammen Sport zu machen, zusammen zu kochen und zu essen!", begeistert sich das Mädchen, das eigentlich keinen Salat mag. Den Kindern hat der Aufenthalt gefallen, alle haben das Gefühl, etwas gelernt zu haben, alle sind motiviert weiterzumachen.

Lernen innerhalb des eigenen Systems

Gassner hält die halbstationären Seminare für sinnvoller als einen langen Klinikaufenthalt, fern von zu Hause. "Dann kommen die Kinder zurück in ihren gewohnten Alltag, und ihr Widerstand gegenüber den Eltern kann enorm sein." Das sieht Agnes Streber, Leiterin des Münchner Ernährungsinstituts "KinderLeicht", ähnlich. "Macht das Kind fern von den Eltern ein Programm, während diese in ihrem System bleiben, klappt das auf lange Sicht nicht."

Streber und ihr Team bieten in München und im Münchner Umland einen halbjährigen "KinderLeicht"-Kurs an mit einem wöchentlichen Termin plus einer neunmonatigen Nachsorge(*). Das "Ernährungsinstitut" liegt in einem bürgerlichen Umfeld, 80 Prozent der "KinderLeicht"-Klienten kommen aus der Mittel- und Oberschicht. Ein Fünftel der Teilnehmer zahlt die Kursgebühr von 1100 Euro selbst, bei den übrigen übernimmt die Krankenkasse die Kosten.

Die Entwicklung von etwas moppelig zu leichtem Übergewicht hin zu adipös sei ein schleichender Prozess, so Streber. "Wenn ein vierjähriges Kind ein Jahr lang täglich einen Butterkeks zu viel isst, hat es am Jahresende drei Kilo mehr drauf." Je früher man gegensteuere, umso besser. Das Alter der Kursschüler liegt zwischen acht und zwölf, pädagogisch könne man die gut zusammennehmen, sagt Streber. Die Ökotrophologin und Familientherapeutin hat den Kurs konzipiert und mit ihrem Team weiterentwickelt. "In den letzten Jahren kommen jüngere Kinder, und das Übergewicht ist mehr geworden. Früher hatten Achtjährige vielleicht fünf Kilo zu viel, heute sind es acht oder neun."

"Schule, essen, schlafen"

In 80 Prozent der Fälle werden die Weichen in der ersten Klasse falsch gestellt, hat Streber beobachtet. Ihre These: Im Kindergarten spielen die Kinder und bewegen sich viel. Durch die Schule nehmen Bewegung und sogenannte funktionsfreie Zeit stark ab, Kinder essen auch in Schul- oder Hort-Kantinen oft kalorienreich, und sie futtern zwischendurch viel, auf dem Schulweg, auf dem Heimweg, ein Brötchen, einen Schokoriegel, alles zwischendurch, ohne diese Dauersnackerei als Essen wahrzunehmen.

Auch stehen Schulkinder heute unter erheblichem Stress, findet Streber. Viele ihrer Kursschüler gingen um sieben Uhr aus dem Haus und kämen dann nachmittags um 17 Uhr zum Kurs. Nach zwei Stunden Kurs gehen sie heim und müssen dort oft noch Hausaufgaben machen. "Schule, essen, schlafen", sagte kürzlich ein Mädchen zu ihr, "daraus besteht mein Leben."

Der Leidensdruck bei Kindern und Eltern stärke die Entschiedenheit, etwas zu tun, sagt Streber, aber nicht unbedingt die Motivation, anders zu essen. "Druck macht häufig ohnmächtig, hoher Leidensdruck versperrt den Zugang zu den eigenen Ressourcen." Deshalb brauchen diese Familien Unterstützung. Auch in Strebers Institut werden Eltern und Kinder getrennt geschult zu den Themen Ernährung, Bewegung, Verhaltensänderung.

Es geht nicht nur um Übergewicht

Was braucht ein Kind an Hilfe, um das richtige Maß zu finden? Das ist unterschiedlich, je nach Alter. Eltern sollten die Regeln nach dem Grundsatz festlegen: Gesundheitsförderlich oder nicht? Denn auch wenn ein Kind nicht dick wird, würde man es nicht literweise zuckerhaltige Limonaden trinken lassen oder den Konsum von zwei Tafeln Schokolade täglich erlauben. Strikte Verbote sind meist kontraproduktiv, so Streber. Aber es könne zum Beispiel bei Softgetränken die Regel geben: ja, aber nur, wenn Besuch kommt. Oder das Angebot, beim Einkaufen nach einer Vorauswahl der Mutter unter 5 Sorten Müsli eins zu wählen, nicht aber aus 20. Streber: "Auf diese Weise hat das Kind eine sinnvolle Begrenzung, und zugleich wird seine Autonomie gestärkt."

Kommen die Kinder in die Pubertät, wird das Thema Essen schwieriger. Ab 13 Jahren, so Streber, gehe es schon um Selbstverantwortung, Ablösung, Autonomie, Gruppendruck. Übergewichtige Grundschüler gehen noch unbekümmert zum Schwimmen, 12- und 13-Jährige vergleichen sich mit anderen, wollen nicht mehr zum Sport gehen, schämen sich für ihr Aussehen. Und die Eltern reagieren unsicher, unwillig, kritisch. Musst du schon wieder Chips essen? "Das schaukelt sich sehr schnell hoch", so Strebers Erfahrung, "da braucht es ein richtiges Konfliktmanagement. Die Eltern müssen lernen, mit Wohlwollen Nein zu sagen, statt auf 180 zu rotieren."

Für Teenager und deren Eltern bieten sie und ihr Team ein entsprechendes Schulungsprogramm, bei dem die Einzelberatung im Mittelpunkt steht.

Erziehung für Kinder und Eltern

Letztlich sollen alle Konzepte im Kampf gegen kindliches Übergewicht die Erziehungskompetenz der Eltern stärken sowie deren Selbstwahrnehmung. Nicht nur Kinder müssen lernen, sich zu beherrschen - oft auch die Eltern. Wie finden sie das richtige Maß, beim Essen, bei der Arbeit, beim Alkoholkonsum, beim Fernsehen, bei sozialen Kontakten?

Und wie sieht gesunde Ernährung eigentlich aus? Die Koch-Kompetenzen hätten abgenommen, der Anteil an Fertiggerichten steige, sagt Streber, es müsse einfach immer schnell gehen. "Ich koche mit den Eltern zwei verschiedene Suppen, und die sind überrascht, wie fix das geht und wie gut die schmecken." 20 Minuten eine Suppe kochen, das lässt sich im Alltag machen. Die Eltern erhalten alltagstaugliche Rezepte, und Streber coacht sie auch, was die Ausstattung der Küche angeht und die Organisation der Einkäufe.

Die Ergebnisse der "KinderLeicht"-Kurse sehen laut Streber so aus: Ein Drittel der Kinder nimmt ab, 40 Prozent halten das Gewicht, 20 bis 25 Prozent nehmen zu. Eine Gewichtszunahme trotz Kurs-Input, wie erklärt sich das?

Gewichtsabnahme kann schwierig werden, so Strebers Erfahrung, weil plötzlich andere Themen auftauchten, die aufs Gemüt schlagen, etwa die Trennung der Eltern, massiver Schulstress, der Tod eines geliebten Menschen oder Liebeskummer. "Den Lebensstil nachhaltig zu ändern, das ist ein langer Weg." Doch oft hören sie und ihr Team während der Nachsorge von Erfolgen: Die Kinder lassen auch mal einen Rest auf dem Teller liegen, essen jetzt Gemüse und Obst, fahren mit dem Rad zur Schule. Solche Veränderungen zeigen sich nicht sofort auf der Waage, machen aber langfristig doch einen Unterschied.

Streber sieht auch Politik und Gesellschaft in der Mitverantwortung: Gibt es gutes Essen in der Schulkantine? Bietet der Pausenkiosk Obst und Vollkornbrote an? Gibt es dort gesunde Getränke? Und was ist mit den Kosten für die Behandlung dicker Kinder? Übergewicht reicht nicht aus als Diagnose für die Krankenkasse, eine entsprechende Möglichkeit, die Behandlung als Prävention abzurechnen, fehlt bislang. Erst bei einer Folgeerkrankung wie Diabetes oder Bluthochdruck übernehmen die Kassen die Gebühr für den "KinderLeicht"-Kurs. Das gilt auch für andere Programme, die sich an Kinder und Jugendliche wenden. Streber: "Wir müssen auf breiter Basis agieren, sonst kriegen wir dieses Riesenthema nicht in den Griff."

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