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Bruxismus Knirscher in der Nacht

Fast jeder Fünfte mahlt nachts mit den Zähnen. Folge sind schwere Schäden am Gebiss und oft auch Kopfschmerzen. Training und Schutzschienen helfen.

Nachts, im Schlaf, wandern die Sorgen vom Kopf in den Kiefer. In zwei Wochen ist die Prüfung zum Steuerberater, monatelang hat Wiebke Grave dafür gelernt, neben ihrem ohnehin aufreibenden Job in der Wirtschaftsprüfung. Kaum noch Freizeit, seit einem Jahr kein Urlaub. Die innere Unruhe lässt ihren Kiefer rotieren, die Zähne pressen sich fest zusammen und schieben sich mit extremem Druck aufeinander. "Das klingt, als wäre eine Ratte im Zimmer, die etwas anknabbert", erzählt die junge Frau aus Hamburg, die seit neun Jahren unter Zähneknirschen, in der Fachsprache: Bruxismus, leidet.

Anfangs hat Wiebke Grave das Drücken an den Zähnen gar nicht bemerkt, denn das Knirschen geschieht unbewusst und meist im Schlaf. Es bleibt oft unerkannt, wenn nicht jemand nachts von den Mahlgeräuschen wach wird oder sich der Zahnarzt über den ungewöhnlichen hohen Abrieb an der Zahnoberfläche wundert. Denn was Knirscher im Schlaf mit ihrem Gebiss bewegen, ist enorm; zeitweise können mehrere hundert Kilo auf den Zähnen lasten. "Das ist in etwa so viel wie bei einem Artisten, der sich nur mit seinen Zähnen am Seil hält und dazu noch schwingt", erklärt Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer. Schwere Zahnschäden sind die Folge: Der Zahnschmelz - die härteste Substanz, die der Körper bilden kann - wird durch das massive Reiben schrittweise abgeschliffen, es bilden sich Risse im Schmelz, das Zahnfleisch kann sich entzünden, schlimmstenfalls kann ein Zahn sogar brechen.

Traumbeißer

Zähneknirschen läuft meist unbewusst während des Schlafs ab. Deshalb bemerken Betroffene ihr Mahlen oft erst, wenn Schäden an den Zähnen sichtbar werden oder sie Schmerzen spüren. Das können Kopf- und Nackenschmerzen sein, als Folge von Verhärtungen und Verspannungen durch die starke Anspannung von Kau- und Gesichtsmuskeln beim Knirschen.

Auch die Gelenke im Kiefer tun durch die hohe Belastung oft weh. Die Lage der Gelenkscheiben kann sich so verändern, dass beim Mundöffnen ein Knacken zu hören ist; im Extremfall lässt sich der Mund nicht mehr richtig öffnen oder schließen.

Bei einem gesunden Gebiss hat der Oberkiefer im Ruhezustand einen Abstand von etwa zwei bis drei Millimetern vom Unterkiefer. Sind die Kaumuskeln entspannt, berühren sich auch die oberen und unteren Zahnreihen nicht.

1. Schmelzrisse

Durch den extremen Druck entstehen Risse im Zahnschmelz, und die Zahnhartsubstanz am Zahnhals platzt auf. Das kann zu überempfindlichen Zähnen führen. Ist der Riss besonders tief, kann der Zahn sogar auseinander brechen.

2. Zahnbettentzündung

Der Zahnhalteapparat (Zahnbett) wird durch die massiven Reibungen stark beansprucht, und das Zahnfleisch kann sich zurückziehen. Kommt es zusätzlich zu bakteriellen Entzündungen, können sich Zähne lockern und ausfallen.

3. Schliff-Facetten

Durch den starken Abrieb des Zahnschmelzes beim Knirschen werden vor allem die Schneide- zähne stark abgeschliffen; die entstandenen glatten Flächen nennt man Facetten. Die Zahnkrone wird abgewetzt. Ist der Zahnschmelz schwer geschädigt, liegt das Zahnbein frei. Der Zahn wird überempfindlich und verfärbt sich dunkel. Schnelle Hilfe für Knirscher bringt eine Aufbiss-Schiene. Der Schutz aus Kunststoff wird nachts eingesetzt. Meist wird diese "Kauleiste" auf dem Unterkiefer getragen, weil sie dort besser hält. Einfache Schienen werden von den Krankenkassen bezahlt. Wer sich jedoch für eine vom Zahnarzt speziell angepasste Schiene entscheidet, muss mit zusätzlichen Kosten in Höhe von 100 bis 250 Euro rechnen. Bei dieser Variante wird der Kiefer vermessen und die Leiste an besonders belasteten Stellen verstärkt.

Hinzu kommen Schmerzen im Kiefergelenk durch eine völlig verhärtete und verkürzte Muskulatur sowie Kopf- und Nackenschmerzen. Früher glaubten Zahnärzte, Auslöser des Knirschens seien schlecht angepasste Füllungen, Kronen und Brücken oder eine Fehlstellung des Gebisses. Solche Zubissstörungen sind aber eher selten und können in der Regel gut behoben werden. Heute gehen Wissenschaftler davon aus, dass Stress die Hauptursache für Bruxismus ist.

Stress macht den Zähnen Druck

Konflikte und Belastungen, so die Zahnexperten, führen zur nächtlichen Beißarbeit. Ob beruflicher oder privater Druck, wichtige Prüfungen, finanzielle Probleme, Überforderung, Mobbing, unterdrückte Aggressionen - das alles können Gründe sein, die "Zähne zusammenzubeißen" oder "sich durchzubeißen". Fast jeder fünfte Deutsche kaut wie Wiebke Grave seine Probleme regelmäßig nachts noch mal durch und wacht "zerknirscht" auf. Besonders betroffen sind Frauen zwischen 30 und 45 Jahren, die sich oftmals beruflich und familiär in einer aufreibenden Lebensphase befinden.

"Mindestens jeder zweite Erwachsene knirscht irgendwann in seinem Leben zeitweise mit den Zähnen", sagt Anne Wolowski, Oberärztin an der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik der Uni Münster. Allein in ihrer wöchentlichen "Knirscher-Sprechstunde" hat sie im vergangenen Jahr etwa 150 Patienten behandelt. Bei etwa 15 Prozent der Knirscher, so Anne Wolowski, treten krankhafte Beschwerden auf, die behandelt werden müssen.

Aufbiss-Schiene bringt Hilfe

Schnelle Hilfe verspricht die so genannte Aufbiss-Schiene, ein durchsichtiger Überzug aus Kunststoff, der entweder industriell vorgefertigt ist oder vom Zahnarzt aus dem Abdruck einer Zahnreihe individuell angepasst wird. Die Schiene wird nachts über die Zähne gelegt. Der Widerstand bremst die Kieferbewegungen und verringert den Druck. So wird zwar nicht das Knirschen verhindert, aber die Zähne werden auf diese Art nicht weiter geschädigt. Die meisten Knirscher wählen aus Kostengründen die einfache Aufbiss-Schiene. Denn individuell angepasste Schienen kosten Kassenpatienten bis zu 250 Euro mehr, weil die dafür notwendigen Kieferuntersuchungen von den gesetzlichen Krankenversicherungen nicht bezahlt werden.

Die günstige Variante birgt allerdings eine Gefahr: Heftige Knirscher beißen eine nicht richtig angepasste Schiene mitunter schon nach einigen Monaten durch. "In diesem Fall knirscht man mit Schiene mehr als vorher ohne", sagt Holger Jakstat, Professor für Zahnmedizin an der Uni Leipzig und Experte für Zahnprothetik. Wichtig sei deshalb, dass die Schiene richtig sitzt. Keinen Unterschied macht es nach Jakstats Untersuchungen, ob die Beißleiste aus hartem oder weichem Kunststoff hergestellt ist. Beide angebotenen Varianten halten gleich gut und sitzen gleich fest. Wirklich abgewöhnen kann man sich das zerstörerische Zähneknirschen mit den Kunststoffschienen nicht.

Entspannungstraining für Geist und Zähne

Wer knirscht, weil er gestresst ist, muss diesen Stress loswerden. "Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen alltäglichen Belastungen und Stress sowie dem Zähneknirschen", sagt Wolfgang Raab, Direktor der Poliklinik für Zahnerhaltung und Präventive Zahnheilkunde der Universität Düsseldorf. In einer gerade abgeschlossenen Studie untersuchte der Wissenschaftler, wie wirksam Entspannungsmethoden wie Biofeedback und Gruppentherapie gegen das Zähneknirschen sind. Ergebnis: Nach rund zwölf Wochen Entspannungstraining knirschten die Probanden nicht mehr so oft und nicht mehr so heftig. Nur, der Effekt ist nicht von Dauer; nach etwa einem halben Jahr ohne Stressbewältigung wurde wieder geknirscht.

Mehr Erfolg verspricht die so genannte Funktionstherapie, die Holger Jakstat zusammen mit dem Privatdozenten Oliver Ahlers vom CMD-Centrum Hamburg-Eppendorf und der Krankengymnastin Martina Sander entwickelt hat. Sie wirkt vor allem, wenn das Knirschen nicht nur psychosomatischer Natur ist. Die Methode kombiniert die zahnärztliche Schienenbehandlung mit speziellen Massage-, Dehn- und Lockerungsübungen für die Kiefer- und Kaumuskulatur; die Patienten lernen auch Übungen für zu Hause. "Richtige Knirscher kommen um eine solche physiotherapeutische Behandlung nicht herum", sagt Martina Sander, die seit mehr als 20 Jahren Patienten mit Kieferbeschwerden behandelt. Bislang gibt es allerdings nur wenige Krankengymnasten mit entsprechender Zusatzausbildung.

Marion Schmidt print
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