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Fehldiagnosen, Zuständigkeitschaos, Zeitmangel

Kein Platz mehr frei im Wartezimmer? In der Grippesaison bekommen Patienten diesen Anblick öfter als sonst zu Gesicht; die Versorgungsqualität bei niedergelassenen Ärzten wird kaum überprüft Kein Platz mehr frei im Wartezimmer? In der Grippesaison bekommen Patienten diesen Anblick öfter als sonst zu Gesicht; die Versorgungsqualität bei niedergelassenen Ärzten wird kaum überprüft
Kein Platz mehr frei im Wartezimmer? In der Grippesaison bekommen Patienten diesen Anblick öfter als sonst zu Gesicht; die Versorgungsqualität bei niedergelassenen Ärzten wird kaum... überprüft
Quelle: Getty Images
In deutschen Arztpraxen kommen jedes Jahr Menschen durch Behandlungsfehler zu Schaden, laut Gesundheitsministerium bis zu 170.000. Jetzt soll es mehr Transparenz geben.

Hans-Georg Gröschner hat sich im Wohnzimmer ein paar Teelichter angezündet. Ihr flackernder Schein reicht kaum bis zu den Bildern an der Wand über der Sitzecke. Doch Gröschner kennt ohnehin jedes Detail, so oft hat er sie angeschaut.

Eine lachende Iris beim Ausflug ins Grüne. Eine stolze Iris vor ihrem „Dienstwagen“. Eine glückliche Iris auf dem Hochzeitsfoto, ganz klassisch in Schwarz-Weiß. Bei einem Tanzabend im Nachbarort stand sie plötzlich da. Aus den Boxen dröhnte „Weil es Dich gibt“ von Peter Maffay.

„Es wurde unser Lied“, sagt Gröschner, doch im selben Moment verglimmt das Leuchten in seinen Augen wieder. „Wir haben es dann auch auf der Beerdigung gespielt.“

Viele Tausend Menschen kommen in Deutschland jedes Jahr zu Schaden, weil sie falsch behandelt werden. Gewöhnlich verbindet man das Problem mit der Anonymität großer Kliniken, über deren Qualität seit Jahren diskutiert wird. Doch Zeitmangel, Kostendruck und Zuständigkeitschaos prägen auch die Behandlungssituation bei den niedergelassenen Ärzten.

De facto findet der mit Abstand größte Teil aller Behandlungen nicht stationär, sondern in einer der knapp 100.000 Einzel- und Gemeinschaftspraxen statt. Die niedergelassenen Ärzte tragen demnach einen Großteil der Verantwortung für die medizinische Versorgung in Deutschland. Doch nicht immer sind sie ihr gewachsen.

Hohe Dunkelziffer

Die Faktenlage wird dünn, wenn es um ärztliches Versagen geht. Rund 4000 nachgewiesene Behandlungsfehler wurden beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) im Jahr 2011 aktenkundig, ein Drittel davon unterlief niedergelassenen Ärzten.

Die Dunkelziffer jedoch dürfte ungleich höher sein: Nur die wenigsten Betroffenen wagen den Weg vor Gericht oder an die Öffentlichkeit – zu groß ist die Angst, als medizinische Laien nicht gegen die Argumentation von Ärzten und Juristen anzukommen. Das Gesundheitsministerium geht daher von 40.000 bis 170.000 Behandlungsfehlern im Jahr aus.

Selbst wenn alle Beteiligten beste Absichten hegen, können Patienten schnell durch das Netz der deutschen Gesundheitsversorgung fallen.

Hans-Georg Gröschner, 58, Hausmeister und Verkaufsfahrer einer mittelständischen Bäckerei in Olbersleben, hat die Liebe seines Lebens verloren. Und es ist eine unerträgliche Vorstellung, dass ihr Tod zu verhindern gewesen wäre. „Hätten die Ärzte meine Frau nur sorgfältiger untersucht“, sagt Gröschner. „Sie könnte heute noch bei mir sein.“

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Die Kette der Ereignisse, die zum Tod von Iris Gröschner führten – er hat sie aufgeschrieben. 36 Blatt Papier füllt seine sorgsame Handschrift, deren gleichmäßiger Schwung nur an einigen Stellen aus dem Fluss geraten ist. Aus Trauer vielleicht oder aus Wut.

Es ist eine Leidensgeschichte, in der 16 verschiedene Ärzte vorkommen, drei Kliniken und ein Ehepaar auf der verzweifelten Suche nach Hilfe in den Mühlen des deutschen Medizinbetriebs. „Meine Frau starb an den Folgen grober Behandlungsfehler“, sagt Gröschner, der einen Anwalt damit beauftragt hat, die Möglichkeit einer Schadenersatzklage zu prüfen. Es ist für den Trauernden das Einzige, was er noch für seine Iris tun kann.

Bündnis für mehr Patiensicherheit

Allein der Gedanke an derlei Tragödien lässt einen Mann wie Dominik Ewald ganz unruhig werden. Der 43-Jährige praktiziert seit drei Jahren in Frankfurt am Main als niedergelassener Kinderarzt; als Vertreter des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte hat er sich schon vor Jahren dem „Aktionsbündnis Patientensicherheit“ angeschlossen, mit dem verschiedene Protagonisten des deutschen Gesundheitssystems die Sollbruchstellen in der medizinischen Versorgungskette aufspüren und die Behandlungssituation der Patienten verbessern wollen.

Immer wieder erlebe ein Arzt Situationen, in denen die tägliche Routine an ihre Grenzen stoße, berichtet Ewald. Der Zeitdruck im Praxisalltag sei groß, das Wartezimmer gerade zu Stoßzeiten oder in der Grippesaison oft bis zum Bersten gefüllt.

„Wenn in so einer Stresssituation ein Krankheitsbild vom Normalen abweicht und nicht mit gewohnter Routine diagnostiziert werden kann, hängt es stark von der Tagesform des Arztes ab, wie sorgfältig der Wurzel des Leidens nachgespürt wird.“

Im Jahr 2008 begann Iris Gröschner Probleme mit häufigem Harndrang zu bekommen. Eine Frau in den mittleren Jahren mit Blasenschwäche, das sei nichts Ungewöhnliches – so befand jedenfalls die immer wieder konsultierte Frauenärztin. Und sie blieb bei dieser Einschätzung auch dann noch, als sich die Beschwerden verschlimmerten.

Bald trieb der Harndrang Iris Gröschner dreimal in der Nacht aus dem Bett. Die Frauenärztin sah bei den halbjährlichen Kontrolluntersuchungen dennoch keinen Anlass für eine Überweisung zum Urologen. „Das haben viele Frauen in Ihrem Alter“, soll sie gesagt haben.

Das Leben anders ausgerichtet

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Iris Gröschner begann ihr Leben um den Harndrang herum auszurichten. Bei der Arbeit – sie war Verkaufsfahrerin für dieselbe Bäckerei, bei der auch ihr Mann beschäftigt ist – legte sie ihre Touren so, dass immer eine Toilette in der Nähe war. Sie trank so wenig wie nur irgend möglich und ertrug den Durst. Dennoch wurde ihr Aktionsradius immer kleiner. Gröschner drängte seine Frau immer wieder, ihre Ärztin zu konsultierten. Doch die Medizinerin winkte jedes Mal ab.

„Erst wenn Schmerzen beim Wasserlassen dazukommen, besteht Anlass zum Handeln“, gibt Gröschner den Rat der Frauenärztin wieder. Hätten sie sich darüber hinwegsetzen sollen, als medizinische Laien, vielleicht sogar müssen? Andere holen bei jedem Zipperlein eine Zweit- und Drittmeinung ein.

Iris Grösch ner aber war ein gutmütiger und bescheidener Mensch, der keinem zur Last fallen wollte. Sie vertraute auf den ärztlichen Rat, obwohl ihr Mann sie immer wieder bekniete, einen anderen Arzt aufzusuchen. Und so bemerkte niemand, dass im Körper von Iris Gröschner ein todbringendes Geschwür heranwuchs.

1,8 Millionen Krankheitsfälle pro Jahr werden von deutschen Kassenärzten behandelt, und die ambulante Versorgung hierzulande genießt nicht ohne Grund den Ruf, zu den besten der Welt zu ge hören. Mit 3,7 Ärzten pro 1000 Einwohnern ist die Medizinerdichte deutlich höher als etwa in Frankreich oder England, wo 3,3 oder 2,8 Mediziner auf 1000 Einwohner kommen.

Praxen sind modern ausgestattet

Zudem ist das Gros der Arztpraxen heute besser gemanagt und moderner ausgestattet als je zuvor. Allerdings liegt auch die Zahl der Arztkontakte, die der Durchschnittsdeutsche pro Jahr absolviert, mit 17 deutlich über dem OECD-Durchschnitt (6,5 Kontakte). Brauchen die Deutschen mehr medizinische Versorgung? Oder dauert es länger, bis sie die richtige Behandlung finden?

154.000 Kassen- und weitere rund 2000 Privatärzte unterschiedlicher Fachrichtungen stehen deutschlandweit für die Versorgung der Bevölkerung parat. Eine Dichte, die auch zum Problem werden kann. Denn in dem großen Geflecht aus Einzelkämpfern weiß mitunter die eine Hand nicht, was die andere tut.

Anders als etwa in Großbritannien, wo der Allgemeinarzt seine Patienten durch das System lotst, dürfen sich Patienten hierzulande auch auf eigene Faust auf die Suche nach der richtigen Behandlung begeben, Fachärzte aussuchen, bei Bedarf auch wieder wechseln. Ein großes Problem bei alldem, sagt Mediziner Ewald, sei oft die Kommunikation.

Ein Beitrag, die Situation zu verbessern, ist das Onlineportal „Jeder Fehler zählt“, das Mediziner mit der Uni Frankfurt entwickelt haben – und auf dem Ärzte anonym Behandlungsfehler beschreiben und miteinander diskutieren können. „Wir niedergelassenen Ärzte sitzen alle auf unseren Inseln und machen im Zweifel dieselben Fehler“, so Ewald. „Fehler werden immer passieren. Aber man muss nicht jeden selber machen, um aus ihm zu lernen.“

Iris Gröschners Schmerzen begannen im Frühjahr 2011. Die Frauenärztin verordnete eine Antibiotikakur. Als die Urinwerte sich dennoch nicht besserten, schrieb sie eine Überweisung zum Urologen. Erst Mitte Juni wurde Iris Grösch ner endlich vom Urologen untersucht. „Nach der Untersuchung kam sie weinend zurück ins Wartezimmer und sagte, dass sie wahrscheinlich einen Tumor habe.“

In der Blase von Iris Grösch ner befand sich ein fünf Zentimeter großes Plattenepithelkarzinom. Kleinere Blasentumoren könnten in der Regel ohne größere Komplikationen entfernt werden, erklärte der Arzt. Doch weil der Tumor so lange unbemerkt geblieben war, blieb nur die Totaloperation. Am 12. Juli 2011 wurde die Blase samt Tumor entfernt. Iris Gröschner musste fortan mit einer aus Darmgewebe geschaffenen Neoblase leben. Weil die Chance einer Früherkennung verpasst worden war.

Fehler transparent machen

Ein Skandal. Oder sind Fehler ein zwangsläufiger Teil des medizinischen Alltags? Fehler passieren, wo immer Menschen am Werke sind, und ihre Analyse kann im besten Fall auch eine Chance für Lernprozesse sein. Die Einsicht, dass man gerade in einem Bereich, in dem es um Leben und Tod gehen kann, Fehler transparent machen muss, ist dennoch vergleichsweise jung.

„Noch Ende der 90er-Jahre wurden all die, die ärztliche Fehler öffentlich diskutieren wollten, als Nestbeschmutzer angesehen“, sagt Joachim Szecsenyi, Geschäftsführer des AQUA-Instituts für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen. Inzwischen habe der nötige Bewusstseinswandel zwar begonnen, „aber bis er wirklich vollzogen ist, braucht es Zeit“.

Seit der Jahrtausendwende ist das Thema Qualitätssicherung auch bei den niedergelassenen Ärzten angekommen. Qua Gesetz sind die Mediziner zu regelmäßigen Fortbildungen verpflichtet. Stichprobenartige Qualitätskontrollen von kassenärztlichen Leistungen sind heute Standard. Mehr und mehr Arztpraxen nehmen an Programmen zur Qualitätssicherung teil.

Und auf Initiative der KBV gibt es bundesweit inzwischen über 8500 Qualitätszirkel, in denen sich Mediziner zu fachlichen Fragen austauschen können. Für den Fuldaer Gesundheitsökonomen Stefan Greß hapert es dennoch nach wie vor an der Vernetzung: „Das große Problem ist, dass Ärzte in der Regel Einzelkämpfer sind, die sich kollegialen Austausch erst mühsam organisieren müssen“, kritisiert Greß und fordert „größere Einheiten“, in denen sich Mediziner zusammenschließen. Gemeinschaftspraxen oder medizinische Versorgungszentren, in denen fachlicher Austausch zum Standard gehört.

Iris Gröschner erholte sich gut von der OP. In ihrem Körper schienen sich keine Metastasen zu befinden, die Ärzte verzichteten auf eine Bestrahlung. Auch von einer Chemotherapie rieten sie bei ihrem speziellen Tumortyp ab. Die 49-Jährige kämpfte sich zurück ins Leben. „Endlich trank sie wieder richtig und schmiedete schon wieder Pläne“, erzählt der Ehemann, der eine knappe Woche mit seiner Frau in der Reha-Klinik in Bad Liebenstein verbrachte.

„Es war eine schöne Zeit“, sagt er. „Wir ahnten ja nicht, dass dies unser letzter gemeinsamer Urlaub sein würde. Diese Endlichkeit ...“ Der 58-Jährige kann nicht weitersprechen. Seine Augen füllen sich mit Tränen, und er lässt sie laufen.

Die Schmerzen kamen zurück

Einen Monat nach der Reha kamen die Schmerzen zurück. In den Beinen, im unteren Rücken. Diesmal suchte Iris Gröschner sofort zwei verschiedene Urologen auf. Doch obwohl sie gerade erst eine Blasen-OP hinter sich hatte, ordnete keiner der Mediziner eine Computertomografie (CT) an, um mögliche Metastasen auszuschließen.

Stattdessen empfahlen sie der Patientin, sich vom Hausarzt eine Überweisung an einen Orthopäden ausstellen zu lassen. Es war der Beginn eines mehrmonatigen Irrlaufs durch die Wartezimmer des Freistaats Thüringen. Iris Gröschner, die früher der Harndrang aus dem Bett getrieben hatte, fand nun vor Schmerz keinen Schlaf. „Wenn ich um 3.45 Uhr morgens aufstand, um zur Arbeit zu gehen, saß sie oftmals auf der Eckbank in der Küche und stöhnte vor Schmerz.“

Verzweifelt suchten die Eheleute einen Arzt nach dem anderen auf. Doch die Mediziner verabreichten nur Schmerzmittel und verwiesen sie weiter. Keiner erkannte das Offensichtliche. Ärzte, Kliniken, die Krankenkasse – niemand schien dafür zuständig, dass der Krebsrekonvaleszentin endlich geholfen wurde. „Die Ärzte haben nur abgerechnet und Punkte geschrieben“, resümiert der Witwer heute bitter. „Doch die Verantwortung für die Gesundheit meiner Frau haben sie weitergereicht.“

Wer den Berliner Arzt Norbert Mönter fragt, bekommt eine Ahnung davon, wie schwer es für Mediziner im Alltag sein kann, die richtige Balance zwischen hippokratischem Eid und unternehmerischer Verantwortung zu finden. „Die Honorarordnung belohnt diejenigen, die die medizintechnischen Geräte maximal ausnutzen“, beklagt der Neurologe, der sich in einem Ärztehaus im Norden der Stadt niedergelassen hat.

Dabei werde gerade bei der rasanten Entwicklung der Technik eine gute Anamnese immer wichtiger: „Statt den Fokus zu sehr auf apparative Diagnostik zu legen, sollten wir zuerst das Zuhören in den Mittelpunkt stellen“, sagt er.

Deutschland fällt zurück

Doch ausgerechnet in der Disziplin, die für Diagnose und Therapieerfolg mitunter entscheidend sein kann, bleibt Deutschland hinter seinen europäischen Nachbarn zurück: Nur 7,6 Minuten nehmen sich Mediziner hierzulande im Schnitt für ihre Patienten; die Konsultationsdauer ist damit nur halb so groß wie zum Beispiel die der Kollegen in der Schweiz oder in Belgien.

Der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zufolge hat dieser Missstand auch mit dem Vergütungssystem hierzulande zu tun. „Wir alle würden uns wünschen, mehr Zeit mit dem Patienten zu verbringen“, sagt KBV-Chef Andreas Köhler. Allerdings würden die Arztpraxen sehr stark mit Bürokratie belastet. Außerdem müssen wir weg von der pauschalen Vergütung. „Die einzelne Leistung, insbesondere das Gespräch mit den Patienten, müssen wir aufwerten“, fordert er.

Doch Experten zufolge besteht auch bei der Fähigkeit, sich in die Psyche der Patienten hineinzuversetzen, bei den Ärzten durchaus Entwicklungsbedarf: „Die psychologische Ausbildung kommt im Medizinstudium entschieden zu kurz“, kritisiert Gesundheitsökonom Greß. Viele Jahre müssten sich die angehenden Mediziner hierzulande durch die oft patriarchalischen Strukturen der Kliniken kämpfen, in denen gerade auf Patientenseite die Ehrfurcht vor den sogenannten Halbgöttern in Weiß nach wie vor groß sei, ergänzt Praktiker Ewald.

„Wer sich danach als Arzt niederlässt, muss oft erst lernen, auf Augenhöhe mit den Menschen zu kommunizieren.“

Vereinzelte Hochschulen haben den Missstand erkannt und versuchen Studenten etwa mit Rollenspielen auf den Austausch mit Patienten vorzubereiten. Doch auch der Staat könnte seinen Beitrag leisten, damit die Kommunikation in der Sprechstunde besser funktioniert. Nicht selten hapert der Austausch auch an der mangelnden Fähigkeit der Patienten, ihre Sorgen in Worte zu fassen, Zweifel zu äußern oder auf einer ärztlichen Zweitmeinung zu bestehen. Während etwa das dänische Gesundheitssystem darauf bedacht ist, die Patienten in dieser Hinsicht zu schulen, lässt das deutsche System sie weitgehend allein.

Notdienst an Weihnachten

Niemand kann mit Bestimmtheit sagen, ob Iris Gröschner noch leben würde, wenn ihr besser zugehört worden wäre. Sicher aber ist, dass eine adäquate Behandlung ihr viel Leid erspart hätte. An Weihnachten musste Gröschner den ärztlichen Notdienst rufen, so schlimm waren die Schmerzen. An Neujahr das Gleiche. „Schmerzüberflutet“ sei seine Frau am Ende gewesen, doch immer noch drängten sie vergeblich auf eine CT-Untersuchung.

Erst als sich die langjährige Orthopädin von Hans-Georg Gröschner, obwohl im Grunde gar nicht zuständig, hinter den Fall klemmte, beschleunigten sich die Dinge. Die Ärztin verschaffte Iris Gröschner einen CT-Termin, der die befürchtete Klarheit brachte. Der Unterbauch der 49-Jährigen war übersät von Ablagerungen. Die Ursache war schon für die Radiologin klar: Metastasen, überall.

Einige Tage später hatte Iris Gröschner ein Bett auf der Palliativstation – auch nur auf Drängen der Orthopädin. Endlich bekam sie die Medikamente, mit denen sie zumindest schmerzfrei war. Doch die Ärzte gaben ihr keine Hoffnung auf Heilung. Zwei Wochen oder vier, hieß es. Höchstens zwei Monate. „Die Nachricht ließ mich ins Bodenlose fallen“, sagt Gröschner.

Krankenschicksale hängen entscheidend davon ab, ob der Informationsfluss zwischen den Beteiligten in der Behandlungskette klappt. „Sobald Sektoren überschnitten werden, wird es schwierig“, sagt Gesundheitsökonom Greß. Wie gut der Übergang vom niedergelassenen Arzt in die Klinik, von der Klinik in die Reha oder zurück funktioniere, hänge noch immer von der Initiative des einzelnen Arztes ab. In den meisten Fällen funktioniert die Kommunikation via Arztbrief, doch manchmal – siehe Iris Gröschner – eben auch nicht.

Experten fordern daher seit Jahren standardisierte Informationswege, um die Patienten daten elektronisch zu übermitteln. Doch während etwa in Spanien die digitale Vernetzung zwischen den verschiedenen Polen des Gesundheitssystems in Teilen schon funktioniert, ist hierzulande die Vollversion einer elektronischen Gesundheitskarte an datenschutzrechtlichen Bedenken gescheitert. Den Experten zufolge hätte sie eine gute Basis für sicheren Datenfluss bieten können.

Im Februar wollte Iris Gröschner ihren 50. Geburtstag feiern. Noch im Klinikbett schmiedete sie Pläne dafür. Wen sie alles einladen würde und dass die Gäste selbstverständlich bei ihr zu Hause übernachten würden. Doch dazu kam es nicht mehr. Acht Tage vor ihrem Geburtstag spürte Hans-Georg Gröschner, wie sich die Hand seiner Frau in der seinen löste. Am 31. Januar 2012 um 0.13 Uhr erlag Iris Gröschner der Krankheit, die von so vielen Ärzten so lange nicht erkannt worden war.

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