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Kassen lehnen Tausende Krankschreibungen ab

Korrespondent Europäische Wirtschaft
Begutachtungen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen Begutachtungen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen
Begutachtungen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen
Quelle: Infografik, Die Welt
234.000 krankgeschriebene Arbeitnehmer sind 2012 von den Kassen zurück an den Arbeitsplatz geschickt worden. Der Gesundheitsminister fordert eine Überprüfung – die Linke spricht von einem „Skandal“.
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Mehr als 200.000 krankgeschriebene Arbeitnehmer wurden im vergangenen Jahr von den Krankenkassen wieder zurück an ihren Arbeitsplatz geschickt. Das geht aus Daten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) hervor.

Demnach haben die gesetzlichen Krankenkassen den Medizinischen Dienst im vergangenen Jahr in rund 1,5 Millionen Fällen gebeten, eine ärztlich festgestellte Arbeitsunfähigkeit medizinisch zu überprüfen.

In mehr als 234.000 Fällen urteilten die Gutachter des MDK, dass es aus medizinischer Sicht keinen Grund für die Fortsetzung der Arbeitsunfähigkeit gegeben habe und sie deshalb innerhalb von zwei Wochen beendet werden könne.

Rückgang der umstrittenen Fälle verblüfft

Tendenziell sinkt offenbar die Zahl der umstrittenen Krankschreibungen: Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitsfälle, die den Medizinischen Diensten zur Begutachtung vorgelegt werden, geht seit einigen Jahren zurück.

Waren es 2010 noch fast 1,63 Millionen Fälle, in denen die Krankenkassen die Gutachter um eine Überprüfung baten, sank die Zahl der Fälle 2011 auf rund 1,55 Millionen Fälle. Im vergangenen Jahr schrumpfte die Zahl der Überprüfungen erneut noch einmal um fast 100.000 Fälle.

Zudem urteilen die Gutachter offenbar zunehmend im Sinne der Patienten. Während die Medizinischen Dienste in den Jahren 2010 und 2011 noch urteilten, dass 16,9 Prozent der Krankschreibungen nicht gerechtfertigt seien, waren es im vergangenen Jahr nur noch 16,1 Prozent der Fälle, in denen sie ein negatives Urteil fällten.

Der Rückgang der umstrittenen Fälle verblüfft, denn die Gesamtzahl der Krankschreibungen in ganz Deutschland ist zuletzt sogar gestiegen: Von rund 33,6 Millionen Fällen im Jahr 2010 auf rund 35,5 Millionen Fälle im Jahr 2011. Für das vergangene Jahr liegen noch keine Daten zur Gesamtzahl der Arbeitsunfähigkeitsfälle vor.

Verpflichtung zur Kontrolle

Warum die Zahl der überprüften Fälle sinkt, darüber kann der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) offiziell auch nur spekulieren.

Ein Grund könne sein, dass die einzelnen Krankenkassen in anderen Bereichen wie Pflegeleistungen oder Krankenhausaufenthalten genauer prüfen ließen; dadurch blieben weniger Kapazitäten für die Begutachtung der Krankschreibungen.

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Die gesetzlichen Krankenkassen sind verpflichtet, zu kontrollieren, wenn Erkrankungen ihrer Versicherten auffällig sind, etwa wenn Erkrankungen wegen ihrer Dauer, Schwere oder Häufigkeit aus dem Rahmen fallen. Diese Überprüfung übernehmen auf Länderebene die jeweiligen Medizinischen Dienste der Krankenkassen.

Hohe Ablehnungsrate bei Reha-Maßnahmen

Die MDKs prüfen dabei nicht nur Krankschreibungen, sondern etwa auch, ob Reha-Maßnahmen notwendig sind oder ob Krankenhäuser mit den Krankenkassen richtig abgerechnet haben.

Auch dort kommt es immer wieder zu Ablehnungen: Im vergangenen Jahr prüften die Medizinischen Dienste rund 680.000 Anträge auf Rehabilitationsmaßnahmen. Auch die Zahl der Prüfanträge in diesem Bereich sank leicht im Vergleich mit den vorangegangenen Jahren. In knapp 39 Prozent der Fälle kamen die Gutachter dabei zu dem Ergebnis, dass die medizinischen Voraussetzungen für einen Reha-Aufenthalt nicht erfüllt seien.

Damit liegt die Ablehnungsrate der Prüfer höher als die Gesamtrate der Krankenkassen – beispielsweise im Jahr 2011: Damals lehnten die Krankenkassen von rund 953.000 Anträgen auf Reha-Maßnahmen 17,4 Prozent der Anträge ab. Der MDS begründet die mehr als doppelt so hohe Ablehnungsrate der Medizinischen Dienste damit, dass dort die besonders schwierigen und komplizierten Fälle landeten.

Verweis auf kostengünstigere Alternativen

Für Hilfsmittel wie zum Beispiel Hörgeräte schrieben die Prüfer im vergangenen Jahr knapp 490.000 Gutachten. In knapp 37 Prozent der Fälle fällten die Prüfer auch in diesem Bereich negative Urteile. Allerdings weist der MDS darauf hin, dass in diesen Fällen die Anträge auf Hilfsmittel nicht immer komplett abgelehnt worden seien. Häufig werde auf kostengünstigere Alternativen verwiesen.

Beispielsweise könne es sein, dass die Prüfer urteilen, dass die medizinischen Voraussetzungen für einen elektrischen Rollstuhl nicht gegeben seien, weil der Betroffene seine Arme noch benutzen könne. Dann müsse ein Rollstuhl ohne Motor ausreichen.

Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Ulrike Mascher, sagte, Patienten sollten sich „auf keinen Fall damit zufriedengeben, wenn der MDK ein Hörgerät über den Festbetrag ablehnt oder eine Reha-Leistung“.

Die Politik mischt sich ein

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Die neuen Daten zur Ablehnungspraxis der Medizinischen Dienste platzen mitten in die heiße Phase des Wahlkampfes – die Reaktionen aus der Politik ließen deshalb nicht lange auf sich warten.

Die Gesundheitsexpertin der Linken, Martina Bunge, sagte: „Es ist ein Skandal, wenn die Krankenkassen notwendige Leistungen verweigern.“ Grund sei die schwarz-gelbe Gesundheitspolitik. Die Politik der Regierung zwinge die Kassen über unsinnige Zusatzbeiträge zu einem Überlebenskampf.

Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) forderte die gesetzlichen Krankenkassen zur Reaktion auf. „Das muss geprüft werden.“ Auch sein Ministerium werde sich dies ansehen. Patienten sollten ihre Rechte nutzen. „Wenn so etwas massenhaft vorkommt, ist es gut, dass Patientenvertreter das öffentlich machen“, sagte er.

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